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Standpunkte Chemiepolitik ist Gesundheitspolitik

Dorothea Baltruks und Annkathrin von der Haar sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen vom Centre for Planetary Health Policy
Dorothea Baltruks und Annkathrin von der Haar sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen vom Centre for Planetary Health Policy Foto: Ben Mangelsdorf

Am 25. September beginnt die Fünfte Weltchemikalienkonferenz unter Schirmherrschaft der deutschen Bundesregierung in Bonn. Dort soll ein neues internationales Rahmenwerk für einen verantwortungsvollen und nachhaltigen Umgang mit Chemikalien verabschiedet werden. Ein Blick auf die aktuellen Zahlen macht schnell deutlich, warum dieser Termin auch bei politischen und Gesundheitsakteur:innen im Kalender stehen sollte.

von Dorothea Baltruks und Annkathrin von der Haar

veröffentlicht am 22.09.2023

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Derzeit sind etwa 100.000 Chemikalien auf dem Markt, die in der Landwirtschaft, in industriellen Prozessen, aber auch in unzähligen Produkten des täglichen Lebens zu finden sind. Ein groß angelegtes Monitoring, unter Beteiligung des Umweltbundesamtes, weist für den europäischen Raum auf eine „alarmierend hohe“ Belastung durch Chemikalien für die Bevölkerung hin, insbesondere für vulnerable Gruppen wie Frauen und Kinder. Diese kann zahlreiche direkte sowie indirekte Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit, die anderer Lebewesen und von Ökosystemen haben.

Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation für das Jahr 2019 sind weltweit mindestens zwei Millionen Todesfälle auf den Kontakt mit Chemikalien zurückzuführen, verursacht insbesondere durch Herz-Kreislauf-, Krebs- und Lungenerkrankungen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Krankheitslast unterschätzt wird, da einerseits nur ein kleiner Teil der auf dem Markt befindlichen Chemikalien adäquat auf dessen umwelt- und gesundheitsbezogene Toxizität und Sicherheit getestet wird. Andererseits sind die Kombinationswirkungen von Chemikalien noch weitestgehend unerforscht.

Die gesundheitlichen Auswirkungen der Umweltverschmutzung durch Chemikalien sind weltweit unterschiedlich stark spürbar. So sind beispielsweise Menschen aus Ländern mittleren oder niedrigeren Einkommens, in denen viele der chemischen Stoffe produziert und verarbeitet werden, unverhältnismäßig stark von den Gesundheitsfolgen betroffen. Durch unzureichenden Arbeits- und Umweltschutz kommen Beschäftigte in der Produktion häufiger direkt in Kontakt mit Chemikalien. Gleichzeitig führen die chemischen Rückstände, die entlang der Wertschöpfungskette von Chemikalien in Wasser, Luft und Böden entstehen, zu einer stärkeren Belastung von Ökosystemen, Tieren und Menschen.

Die pharmazeutische Industrie im Fokus

Das Anfang 2023 eingeführte Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz soll die Menschenrechtsverletzungen reduzieren, wobei zivilrechtliche Haftung ausgeschlossen und nur direkte Zulieferer eingeschlossen sind. Die von der EU-Kommission entworfene Lieferkettenrichtlinie (Corporate Sustainability Due Diligence Directive) sieht vor, die gesamte Lieferkette zu regulieren und sowohl Menschenrechts- als auch Klima- und Umweltstandards deutlich zu verbessern. Währenddessen hat sich die Produktionskapazität der weltweit agierenden Chemieindustrie in den Jahren 2000 bis 2017 verdoppelt. Zu erwarten ist, dass sich ihr Umsatz von 2017 bis 2030 noch einmal verdoppeln wird.

Für das Gesundheitswesen selbst ist die Verwendung vieler Chemikalien unverzichtbar, vor allem in Form von Arzneimitteln und als Teil von Medizinprodukten. Zwar werden die direkten Wirkungen auf die menschliche Gesundheit in der Arzneimittelzulassung streng kontrolliert. Dennoch sind die Wirkungen von Arzneimittelrückständen in Gewässern und auf die Ökosysteme, in die sie gelangen, in vielen Fällen nicht gut erforscht.

Darüber hinaus fehlt es vor allem bei Arzneimitteln, die vor der Einführung der Umweltverträglichkeitsprüfung für Humanarzneimittel 2006 zugelassen wurden, oft an verlässlichen, transparent zugänglichen Daten und Informationen über Umwelt- und Produktionsbedingungen entlang ihrer Wertschöpfungskette. Die von der Europäischen Kommission im Frühjahr vorgeschlagene Reform der Arzneimittelgesetzgebung würde dies zumindest anlassbezogen einführen und sollte daher von der Bundesregierung unterstützt werden.

Die Verhandlungspunkte der Weltchemikalienkonferenz

Hauptgegenstand der ICCM5 ist es, eine internationale Folgevereinbarung für den 2006 eingeführten Strategischen Ansatz zum Internationalen Chemikalienmanagement (SAICM) zu verhandeln, dessen Zielsetzung 2020 endete. Der SAICM stellt das einzige, wenn auch rechtlich nicht bindende, umfassende Rahmenwerk des internationalen Chemikalienmanagements zum Schutz der Umwelt und Gesundheit dar. Durch den SAICM sollen weltweit staatlich institutionalisierte Chemikalienkontrollsysteme etabliert werden, die den gesamten Lebenszyklus von Chemikalien einbeziehen. Auf diese Weise sollen die negativen Auswirkungen von Chemikalien auf Ökosysteme, die menschliche und die Tiergesundheit minimiert werden.

Bislang führten die fehlende Verpflichtung, eine mangelhafte Verantwortungsübernahme der chemischen Industrie, wenig politisches Interesse und somit eine unzureichende Regulierung und Finanzierung dazu, dass eine adäquate und international flächendeckende Umsetzung des SAICM bisher ausgeblieben ist. Insbesondere in Ländern mit niedrigen oder mittleren Einkommen mangelt es an regulierenden Umwelt- und Arbeitsschutzvorschriften.

Bei der Weltchemikalienkonferenz in Bonn müssen nun entsprechend ambitionierte Schritte gegangen werden, um eine ökologische Transformation der Sektoren entlang der Wertschöpfungskette von Chemikalien voranzubringen. Um die Ziele für nachhaltige Entwicklung nicht vollends zu verfehlen, ist ein international nachhaltiges Chemikalienmanagement dringend notwendig.

Die wichtigsten Prioritäten für deutsche Entscheidungstragende

  1. Den Bedarf an Chemikalien senken: In vielen Bereichen ist durch Effizienzgewinne und alternative Praktiken eine Reduktion von gesundheits- und/oder umweltschädlichen Chemikalien möglich.
  2. Unsachgemäße Entsorgung vermeiden: Durch Sammelstellen (z.B. in Apotheken), klare Informationen und Aufklärung könnte die Verschmutzung von Ökosystemen durch unsachgemäße Entsorgung von Arzneimittel und anderen chemischen Produkten reduziert werden.
  3. Das Vorsorgeprinzip im gesamten Lebenszyklus von Chemikalien in den Vordergrund stellen: Insbesondere im Gesundheitswesen ist der größte Hebel hierfür die Förderung von Prävention und Gesundheitsförderung. Diese kann die Krankheitslast und damit den Bedarf an Arzneimitteln und anderen Behandlungen reduzieren.
  4. Die Umwelt-, Klima- und Menschenrechtsgefahren in der gesamten Wertschöpfungskette reduzieren: Dies beinhaltet beispielsweise auch die Stärkung der internationalen Transparenz innerhalb und außerhalb der Lieferketten.
  5. Die Forschung und Datengrundlagen stärken sowie ausbauen: Dabei sind insbesondere Wissenslücken in Bezug auf die Umwelt- und Gesundheitsverträglichkeit von Chemikalien zu schließen. Die internationale sowie intersektorale Vernetzung von relevanten Akteuren aus Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft stärken: Hierbei sollten vor allem auch Umwelt- und Gesundheitsgefahren berücksichtigt werden.

Dorothea Baltruks und Annkathrin von der Haar sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen vom Centre for Planetary Health Policy.

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