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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Ein modernes Arzneimittelrecht für das 21. Jahrhundert

Stella Kyriakides, EU-Kommissarin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, und Margaritis Schinas, Vizepräsident der Europäischen Kommission
Stella Kyriakides, EU-Kommissarin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, und Margaritis Schinas, Vizepräsident der Europäischen Kommission Foto: Europäische Union

Seit das geltende EU-Arzneimittelrecht vor mehr als 20 Jahren eingeführt wurde, haben neue Megatrends die Gesundheits- und Pharmabranche revolutioniert. Das Rechtssystem muss damit Schritt halten, meinen Margaritis Schinas, Vizepräsident der Europäischen Kommission, und Stella Kyriakides, EU-Kommissarin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Im Standpunkt erklären sie, warum das Arzneimittelrecht auf EU-Ebene reformiert werden muss und wieso bestimmte Maßnahmen dafür ausgewählt wurden.

von Stella Kyriakides und Margaritis Schinas

veröffentlicht am 27.04.2023

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Die durch die Pandemie bedingten beispiellosen Herausforderungen haben die Gesundheitsversorgung wieder in den Mittelpunkt der Politik gerückt. Es hat sich noch nie deutlicher gezeigt: Die EU kann die Gesundheit ihrer Bürgerinnen und Bürger am besten schützen, wenn wir gemeinsam handeln. Ausgehend von dieser Erkenntnis entstand schließlich die Europäische Gesundheitsunion, ein seit 2020 laufendes Projekt, das auf den Chancen aufbaut, die die Krise bietet, um die seit Langem bestehenden Probleme und Defizite in den Gesundheitssystemen der gesamten EU zu lösen. 

Bei Arzneimitteln fällt dies besonders ins Auge. Der Zugang zu Arzneimitteln sagt am meisten darüber aus, wie effizient ein Gesundheitssystem ist

Heute sind Arzneimittel nicht schnell genug für alle Patientinnen und Patienten verfügbar, da innovative und vielversprechende Arzneimittel, die auf den Markt kommen, nicht immer in allen EU-Ländern gleichermaßen verfügbar sind. Für zu viele Krankheiten gibt es außerdem noch immer keinerlei Präventions- oder Behandlungsmöglichkeiten. Gleichzeitig können sich viele Patientinnen und Patienten, aber auch manche Gesundheitssysteme, bestimmte Arzneimittel aufgrund hoher Preise gar nicht leisten. Zudem sind Lieferengpässe bei Arzneimitteln ein chronisches Problem, das dazu führen kann, dass Menschen nicht die von ihnen benötigten Therapien bekommen. Geopolitische Spannungen haben auch die Schwachstellen in unseren Gesundheitssystemen aufgedeckt, die uns von Drittländern abhängig machen. Unterdessen werden dringende Prioritäten wie die Zunahme antibiotikaresistenter Bakterien nicht schnell und effizient genug angegangen. 

Europa braucht einen grundlegenden Wandel bei Arzneimitteln

Seit das geltende EU-Arzneimittelrecht vor mehr als 20 Jahren eingeführt wurde, haben neue wissenschaftliche und technologische Megatrends die Gesundheits- und Pharmabranche revolutioniert. Unser Rechtssystem muss damit Schritt halten

Ein modernes, krisenfestes Arzneimittelsystem, das den Menschen jeden Tag zugutekommt, ist ein zentraler Bestandteil der starken Europäischen Gesundheitsunion, auf die wir aufgrund der Erfahrungen mit COVID-19 hinarbeiten. Um Kopfschmerzen zu stoppen, eine Allergie zu behandeln, ein Kind zu impfen oder einen Krebspatienten mit den neuesten innovativen Arzneimitteln zu behandeln – dafür braucht es wichtige Arzneimittel, zu denen die Menschen Zugang haben müssen. 2019 wurden 54 Prozent der Menschen in Deutschland Arzneimittel verschrieben. 

Während die Menschen in einigen westlichen und größeren EU-Ländern Zugang zu 90 Prozent der neu zugelassenen Arzneimittel haben, liegt die Zahl in einigen östlichen und kleineren Mitgliedstaaten nur bei 10 Prozent. Auch die Wartezeiten, bis sie erhältlich werden, sind sehr unterschiedlich: Die Menschen in einigen EU-Ländern müssen mehrere Jahre, in anderen hingegen nur wenige Monate warten. Konkret bedeutet das, dass einige Patientinnen und Patienten keine wirksamen Behandlungsmöglichkeiten für ihre Erkrankung haben. Deshalb ist es so wichtig, dass sie Zugang zu innovativen und erschwinglichen Arzneimitteln erhalten und dass unsere weltweit führende Pharmaindustrie weiterhin stark und international wettbewerbsfähig bleibt. 

Allen Bürger:innen Zugang ermöglichen

Ein Teil des Problems besteht darin, dass unsere Vorschriften zu pauschal sind und der Binnenmarkt für Arzneimittel fragmentiert ist. Es sollten Anreize für unsere innovative Industrie geschaffen werden; sie sollten jedoch enger daran geknüpft werden, ob die Industrie auf die Erfordernisse der Patientinnen und Patienten und der Gesundheitssysteme eingeht. Es ist wichtig für uns, dass die Menschen in allen 27 EU-Ländern Zugang zu Arzneimitteln haben. 

Deshalb werden wir zuallererst Rechtsvorschriften fördern, die sicherstellen, dass alle Menschen in der EU Zugang zu Arzneimitteln erhalten, und die gleichzeitig für Wettbewerb sorgen, der wiederum die Preise senkt und die Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme in allen EU-Ländern gewährleistet. Wir müssen einen Binnenmarkt für Arzneimittel schaffen. 

Zweitens, müssen wir genauso dringend Innovationen durch Vorschriften fördern, die die Forschung unterstützen und den Verwaltungsaufwand im System verringern. Unser Ansatz wird 300 Millionen Euro an unnötigen Verwaltungskosten einsparen. 

Um Engpässe zu vermeiden, ist es auch notwendig, die Überwachung der Arzneimittellieferketten zu verbessern und insbesondere festzustellen, wo die strategische Autonomie der EU bei der Herstellung von Arzneimitteln gestärkt werden muss. Es muss auch ermittelt werden, ob eine Reserve bestimmte Arzneimittel eingelagert werden muss. 

Nachschub an neuen Antibiotika zwingend benötigt

Zu guter Letzt müssen wir gegen die Antibiotikaresistenz vorgehen, bevor diese „stille Pandemie“ zu unserer nächsten globalen Krise wird. Jährlich verlieren 35.000 Menschen in der EU ihr Leben wegen medikamentenresistenter Bakterien. Wir werden ambitionierte Instrumente vorschlagen, darunter übertragbare Gutscheine für den Unterlagenschutz für neuartige Antibiotika, Beschaffungsmechanismen und Maßnahmen zur umsichtigen Verwendung, um das Problem anzugehen und einen seit Jahrzehnten versiegten Nachschub an Antibiotika wieder zu in Gang zu bringen. 

Der Schlüssel zum Erfolg dieser Reform lässt sich in einem Wort beschreiben: Ausgleich. Die europäische Pharmaindustrie muss in Sachen Innovation führend bleiben. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass die EU-Vorschriften dazu beitragen, dass diese Innovationen den Menschen in der gesamten EU zugutekommen.  

Margaritis Schinas ist Vizepräsident der Europäischen Kommission und Stella Kyriakides ist die EU-Kommissarin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit.

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