Erweiterte Suche

Gesundheit & E-Health

Standpunkte Eine echte griechische Tragödie?

Hilde Mattheis (SPD) ist MdB und Mitglied im Gesundheitsausschuss
Hilde Mattheis (SPD) ist MdB und Mitglied im Gesundheitsausschuss Foto: Maximilian Neudert

Vor einer Woche besuchte die SPD-Gesundheitspolitikerin Hilde Mattheis das Flüchtlingscamp Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos. Sie berichtet über menschenunwürdige Bedingungen, eine katastrophale medizinische Versorgung und ihre Furcht, dass sich das Lager zu einem europäischen Corona-Hotspot entwickelt.

von Hilde Mattheis

veröffentlicht am 01.10.2020

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen

In griechischen Tragödien lässt sich die herannahende, sich immer deutlicher abzeichnende Katastrophe trotz großer Anstrengungen der handelnden Personen nicht mehr abwenden. In griechischen Tragödien gibt es keine Chance, nicht schuldig zu werden. Fast sieht es so aus, als wenn die Situation für Geflüchtete insbesondere auf den griechischen Inseln das Zeug für eine echte griechische Tragödie hätte.

Moria war ein Camp des Elends. Kara Tepe, das schnell errichtete neue Camp, könnte ein Camp der Tragödie werden. Nach dem verheerenden Brand des Elendslagers Moria, bei dem rund 20.000 Menschen in erbärmlichen Lebensverhältnissen auch diese „verloren“ haben, werden auch in dem schnell errichteten Camp sämtliche Erkenntnisse bezüglich wirksamer Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie negiert.

Covid-19? Zelt an Zelt!

Das neu errichtete Camp Kara Tepe ist direkt am Wasser, wenige Autominuten von der Stadt Mytilini entfernt errichtet worden. Es ist von hohem Stacheldraht umgeben, ein großes Aufgebot an Polizei ist vor und im Camp sichtbar. Es steht Zelt an Zelt.

Der Zutritt zum Camp erfolgt nur durch ein Tor direkt an der Straße. Hier kontrollieren und registrieren MitarbeiterInnen des UNHCR, wer ins Camp geht. Täglich dürfen zirka 500 Menschen das Camp für Besuche und Einkäufe verlassen, sie werden erfasst. Mir wurde der Zutritt gewährt.

Vor den größeren Versorgungszelten herrschte Chaos. Menschen mit und ohne Mund-Nasen-Schutz drängelten um Wasser, Nahrung und andere Bedarfe des Lebens. Kinder liefen dazwischen herum. Kurz gesagt: Keine Abstandsregelungen, keine Hygienemaßnahmen, aber Drängeln und Kampf um das Notwendigste. Für die Menschen ist das offensichtlich eine permanente Stresssituation. NGOs ist der Zutritt verwehrt. Sie arbeiten außerhalb des Camps.

In einem großen Zelt des UNHCR wurden Vorbereitungen für Covid-19-Testungen getroffen. In dem Zelt waren etwa zehn MitarbeiterInnen, die aber keine Auskunft über den weiteren Ablauf und das Vorgehen geben konnten. Offensichtlich kontrollierten sie Namenslisten, konnten aber nicht sagen, wann welche Personengruppen getestet werden sollten.

Wind und Wetter ausgesetzt

Es gibt weitere große Zelte, in denen ausschließlich jüngere Männer untergebracht sind. Sie schlafen in Dreierbetten übereinander mit einem Abstand zu den nächsten Dreierbetten, der es gerade so mal ermöglicht, sich in die Betten zu legen. Der Abstand von 1,50 Metern wird nicht gewahrt. In den anderen, kleineren Zelten sind zwei bis vier Familien (je nach Zahl der Familienmitglieder) untergebracht, auch auf engstem Raum. Die Zelte haben keine festen Böden. Nur die Betten bieten den Menschen eine Distanz vom Erdboden. Zwischen den Zelten sitzen insbesondere viele Frauen und Kinder lethargisch auf dem Boden. Es gibt unglaublich viele ganz kleine Kinder.

An dem Tag herrschte vom Meer her ein starker Wind und erfasste die Zeltplanen, ein Hinweis darauf, dass das Camp völlig ungeschützt ist. Nach Aussagen der NGOs ist der Platz für das Camp so ungünstig gewählt, dass bei schlechterem Wetter die Menschen starkem Wind und Regen ausgesetzt sind und sie im Schlamm versinken werden. Die Essensversorgung wird zentral organisiert, Duschen und Toiletten konnte ich nicht anschauen.

Die bislang festgestellten über 240 mit SARS-CoV-2 Infizierten sind isoliert. Es wird an einer zweiten Möglichkeit der isolierten Unterbringung gearbeitet, denn offensichtlich steigen die Zahlen stark an. Nach Auskunft des ehemaligen griechischen Gesundheitsministers Andreas Xanthos sind die Corona-Schnelltests so unzuverlässig, dass alle von einer weitaus größeren Zahl von Infizierten ausgehen. Mein Besuch hat mir deutlich gemacht, dass die Bedingungen im Camp dazu führen werden, dass sich hier ein Corona-Hotspot entwickeln wird.

Ohne Plan auf das Festland

Außerdem leben nach dem Brand in Moria noch tausende Menschen auf der Straße oder schlafen in Olivenhainen. Sie versuchen sich irgendwie durchzuschlagen. Auch wenn die Polizei immer wieder Menschen aufgreift und in das neue Camp zwingt, es sind so viele, die auf keinen Fall in diese neue Zeltstadt wollen.

Es sollen rasch 700 Menschen ans Festland gebracht werden, in den kommenden Wochen nochmals 2.300 Menschen. Angesichts der Tatsache, dass mir von NGOs bestätigt wurde, dass jede Nacht bis zu 150 weitere Menschen auf die Insel kommen, ist das sicher ein wichtiger Schritt. Es sollen alles anerkannte Flüchtlinge sein.

In Athen leben tausende Menschen, deren Asylverfahren abgeschlossen ist, auf der Straße. Es bleibt zu fragen, wie diejenigen, die auf das Festland gebracht werden, unterbracht werden. Landen sie auch auf der Straße oder in einer der geschlossenen Einrichtungen zum Beispiel in Athen, zu der mir die Möglichkeit der Besichtigung verweigert wurde? Egal mit welchen Mitteln in Griechenland politische Handlungsstärke demonstriert werden soll, ein schlüssiges Gesamtkonzept ist nicht zu erkennen.

Griechenland hat eine der niedrigsten Corona-Infektionszahlen und glücklicherweise eine der geringsten Todesraten. In griechischen Lokalen und dem gesamten öffentlichen Leben wird stark darauf geachtet, dass Hygieneregeln eingehalten werden. Wenn Europa dieses Land jedoch weiterhin so allein lässt in der Flüchtlingsfrage, wird das im Zusammenspiel mit der Covid-19 Pandemie eine griechische Tragödie.

Hilde Mattheis (SPD) ist Mitglied des Deutschen Bundestages und Mitglied im Gesundheitsausschuss.

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen