Wenn auf Diskussionsveranstaltungen im politischen Berlin über die Digitalisierung des Gesundheitswesens gesprochen wird, dann kommen die Anwender nur sehr sporadisch zu Wort. Stattdessen geht es allzu häufig um das große Ganze, die Visionen und wie schön es sein könnte – wie es in den Praxen tatsächlich konkret läuft (oder nicht läuft) wird in der Regel eher als ein störender Realitätscheck wahrgenommen. Das beste Beispiel für diese in Teilen schiefe Diskussion ist die elektronische Patientenakte, die viel zu selten konkret wird. Durch die nun angekündigten Digitalisierungsgesetze kommt zwar wieder Bewegung in das Thema – die zentralen Herausforderungen lassen sich jedoch nicht auf dem Papier lösen, sondern nur, indem man gute Lösungen in die Praxen bringt.
Als niedergelassene Hausärztin in einer Gemeinschaftspraxiss, die jedes Quartal über 2000 Patientinnen und Patienten versorgt, erlebe ich jeden Tag, dass quasi niemand, der nicht beruflich damit zu tun hat, die ePA bisher kennt, geschweige denn aktiv nachfragt. Gerade deswegen versuche ich sie meinen Patientinnen und Patienten die regelmäßig näherzubringen, denn ich bin davon überzeugt, dass eine gut funktionierende ePA eine enorme Verbesserung der Versorgungsqualität für meine Patientinnen und Patienten, aber auch für mich als Hausärztin, mit sich bringen würde. Gerade vor dem Hintergrund der Einführung einer Opt-out ePA gibt es ein Bündel an Problemen, die dringend gelöst werden müssen, bevor Dutzende Millionen Patientinnen und Patienten mit einer ePA ausgestattet werden.
ePA in der Praxis – langsam und unstrukturiert
Das Erste, was man in der Praxis erlebt, wenn man versucht mit der ePA zu arbeiten, ist, dass es dauert. Viele Kolleginnen und Kollegen sprechen etwas desillusioniert davon, dass die Sanduhr, also das Wartezeichen des PCs, auch das Logo der TI sein könnte. Allein das Öffnen der ePA nimmt häufig viel zu viel Zeit in Anspruch. Das mindert die Freude an der Anwendung gleich zu Beginn. Auch die Erstbefüllung ist gefühlt eine abendfüllende Veranstaltung. Mehr als einmal habe ich mich mit einem Patienten nach der Sprechstunde zusammengesetzt, um gemeinsam die ePA zum Laufen zu bringen und zu befüllen. Dass dies in dieser Form nicht skalierbar ist, liegt auf der Hand.
Eine weitere Erkenntnis ist, dass sehr viel von der konkreten Umsetzung im Praxisverwaltungssystem (PVS) abhängt. Während einige PVS-Anbieter die ePA verhältnismäßig gut implementiert haben und beispielsweise das Up- und Downloaden problemlos funktioniert, ist sie bei anderen PVS-Herstellern de facto kaum praktisch nutzbar. Dieser Aspekt ist aus meiner Sicht in der öffentlichen Diskussion unterbelichtet: Der Erfolg der TI-Anwendungen hängt maßgeblich von den PVS-Herstellern ab. Wenn sie ihren Job nicht gut machen, dann helfen die besten Gesetze und die engagiertesten Ärztinnen und Ärzte nichts. Hier sollte der Gesetzgeber auch noch einmal überlegen, wie mit den Digitalisierungsverweigerern auf Seiten der Industrie umzugehen ist.
Strukturierung der Daten ist die Gretchenfrage
Für die praktische Nutzung im Versorgungsalltag ist es von entscheidender Bedeutung, das Dokumentenchaos in der ePA in den Griff zu bekommen. Die Dokumente müssen schnell und eindeutig den jeweiligen Kategorien zugeordnet werden, damit sie im eng getakteten Praxisalltag auch unmittelbar zur Verfügung stehen. Mit einer pdf-Ansammlung ist niemanden geholfen. Stand jetzt ist es so, dass die Dokumente häufig relativ wahllos zugeordnet werden müssen. Diese dann später wiederzufinden, gleicht der Suche nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen. Desto mehr Akteure auf die ePA zugreifen und Dokumente einstellen, desto mehr wird sich das Problem verschärfen.
Um es klar zu sagen: Ohne strukturierte Daten ist die ePA de facto wertlos. Viel steht und fällt also mit der Umsetzung und der Ausgestaltung der Medizinischen Informationsobjekte (MIOs), also gewissermaßen den Bauplänen, nach denen die jeweiligen Informationen in der ePA abgeleitet werden. Was es konkret bedeutet, ohne strukturierten Daten in der ePA zu arbeiten, lässt sich am Beispiel Labordaten gut nachvollziehen: Diese werden zwar strukturiert vom Labor in die PVS übertragen, um die anschließend jedoch in die ePA zu laden, muss ich ein pdf erzeugen. Hier machen wir also eher einen Schritt zurück als einen vorwärts. Dieses Problem soll nach den Gesetzesplänen des Bundesgesundheitsministeriums wohl bald angepackt werden.
Wie vollständig muss eine ePA sein?
Eine weitere Herausforderung, der wir uns bei der Nutzung der ePA stellen müssen, ist: Wie wird sichergestellt, dass möglichst alle notwendigen Dokumente auch in die ePA hochgeladen werden und verfügbar sind? Daran schließt sich die Frage an: Wie sollen wir damit umgehen, wenn das nicht der Fall ist?
Natürlich sind wir als Leistungserbringer aufgefordert, alle relevanten Daten in die ePA einzustellen – wenn die Patientin oder der Patient das wünscht. Hier gibt es ja bereits konkrete gesetzliche Vorgaben. Bisher funktioniert jedoch die Übertragung von Befunden über KIM deutlich besser als direkt über die ePA, sodass viele Kolleginnen und Kollegen nachvollziehbarerweise diesen Weg wählen, wenn sie einen Befund mit einer Kollegin oder einem Kollegen teilen möchten. Das konterkariert natürlich die Grundidee der ePA, alle Befunde für alle Befugten zugänglich zu machen. Das Einstellen in die ePA muss also attraktiver werden: Es braucht unbedingt eine automatisierte Übertragung der Daten aus dem PVS in die ePA. Nur die Verpflichtungskeule zu schwingen, ist zu wenig. Es muss auch vernünftig umgesetzt werden.
Patientinnen und Patienten sollen selbst entscheiden können, welche Dokumente für wen sichtbar sind. Das klingt zunächst einmal gut, bringt aber das Problem mit sich, dass man sich als Ärztin oder Arzt nie auf die Vollständigkeit der ePA wird verlassen können. Damit einher geht dann auch die Frage nach der Haftung: Wie ist erkennbar, welche Informationen der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt zu einem spezifischen Zeitpunkt vorlagen? Dieses Problem gab und gibt es bisher auch schon, muss aber im Zuge der Etablierung der ePA erneut diskutiert und geklärt werden.
In Anbetracht all der Probleme im Umgang mit der ePA, wäre es ein Leichtes, frustriert den Kopf in den Sand zu stecken. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass der potenzielle Mehrwert der ePA so groß ist, dass sich der Aufwand im engen Praxisalltag dennoch lohnt. Außerdem wird spätestens durch die Einführung der Opt-out ePA das Thema noch einmal dringlicher. Als Deutscher Hausärzteverband versuchen wir nicht nur die Probleme zu benennen, sondern auch mögliche Lösungsschritte vorzuschlagen – beispielsweise mit dem Eckpunktepapier zur Nutzung der elektronischen Patientenakte im hausärztlichen Versorgungsalltag, welches die AG Digitalisierung im Deutschen Hausärzteverband erarbeitet hat. Unser Ziel bleibt: Wir müssen die ePA zum Laufen bringen – nicht nur auf der Tonspur, sondern vor allem in der Praxis.
Dr. Kristina Spöhrer ist Sprecherin der Arbeitsgruppe Digitalisierung im Deutschen Hausärzteverband.