Eine Frau geht zum Arzt. Sie leidet an Übelkeit und Erbrechen und beschwert sich gelegentlich über Schmerzen im linken Schulterblatt. Diese Symptome werden in der Regel nicht mit einer einzigen Krankheit in Verbindung gebracht und daher getrennt voneinander behandelt. Die wahre Ursache bleibt unbekannt – bis die Frau einen Herzinfarkt erleidet.
Wäre bei der Vorsorgeuntersuchung jedoch berücksichtigt worden, dass sich Herzinfarkte in verschiedenen Bevölkerungsgruppen auf sehr unterschiedliche Weise ankündigen, hätte man dieses lebensbedrohliche Ereignis verhindern können. Denn die typischen Schmerzen in der Brust und im linken Arm, an denen wir die drohende Gefahr eines Herzinfarkts ausmachen, gelten vor allem für Männer. Nach derartigen Vorfällen braucht man nicht lange zu suchen, denn diese ereignen sich jeden Tag um uns herum.
Heute ist Weltfrauentag. Überall auf der Welt feiern Menschen, Familien, Gemeinschaften, Regierungen und Unternehmen die Ermächtigung von Frauen und ihre Erfolge. Ich möchte diesen Tag zum Anlass nehmen, über Lösungen nachzudenken, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen verbessern, angefangen bei einer besseren Gesundheitsversorgung.
Gesetze gegen Ungleichheiten
Wie bei vielen anderen Krankheiten auch, erkranken Frauen und Männer oft auf unterschiedliche Weise, zeigen unterschiedliche Symptome und brauchen daher auch differenzierte Ansätze bei der Diagnose und Behandlung. Wenn es jedoch um klinische Studien geht – also die Daten, die Ärzte für ihre Arbeit und für ihr Verständnis bestimmter Gesundheitszustände heranziehen – sind Frauen oft unterrepräsentiert und werden daher bei der Konzeption und Entwicklung von Diagnose- und Behandlungsleitlinien benachteiligt. Je nach Studie machen Frauen oft nur etwa 10 bis 40 Prozent der Teilnehmenden in der ersten Phase aus. Wenn man tiefer schaut und die Verteilung der Teilnehmenden im Hinblick auf ethnische Herkunft berücksichtigt, ist der Nachteil für beispielsweise nicht-weiße Frauen sogar noch stärker.
Gesetzgeber unternehmen nun endlich Schritte, um diese Ungleichheiten zu beheben. In den Vereinigten Staaten verpflichtet das DEPICT-Gesetz (Diverse and Equitable Participation in Clinical Trials), das der US-Kongress im Januar 2023 in das Haushaltsgesetz aufgenommen hat, die Auftraggeber klinischer Studien zur Aufstellung eines Diversitätsplans. Die FDA wird sogar das Recht haben, nach der Markteinführung für diejenigen Prüfungen anzuordnen, die die Zielvorgaben für Diversität bei der Zusammensetzung klinischer Studien nicht erreichen, was zusätzliche Arbeit und Kosten bedeutet. In der Europäischen Union verlangt die 2022 in Kraft getretene aktualisierte Verordnung über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln (536/2014), dass offengelegt wird, ob die Teilnehmenden klinischer Studien die Bevölkerungsgruppen angemessen repräsentieren, sowie eine adäquate Begründung, falls dies nicht der Fall ist.
Wearables, digitale Biomarker, Konnektivität
Doch wie lässt sich eine repräsentativere Zusammensetzung von klinischen Studien in der Praxis umsetzen? Auftraggeber von Prüfungsverfahren für Arzneimittel oder Geräte werden zukünftig nach neuen Methoden und Technologien suchen, um mehr Vielfalt zu erreichen. Digitale Gesundheitstechnologien und cloudbasierte Lösungen machen sich bei Patientinnen und Patienten über die gesamte Gesundheitsbranche hinweg bemerkbar. Das Aufkommen von Wearable-Technologien und digitalen Biomarkern ermöglicht es der Forschung, die Suche nach Studienteilnehmenden über die bloße Nähe zu klinischen Forschungseinrichtungen hinaus zu erweitern. Konnektivitäts-Tools und Metaverse- sowie Cloud-gestützte Strategien können klinische Studien revolutionieren, indem sie sie für geografisch verstreute Kandidaten zugänglicher und für die Teilnehmenden interessanter machen.
Interaktive, VR-fähige Pods können Apothekenkundinnen und -kunden mit relevanten klinischen Studien in Verbindung bringen können, und zwar auf erlebnis- und datenreiche Weise, was die Herausforderungen sowohl hinsichtlich der Bekanntheit als auch der Zugänglichkeit zu klinischen Studien lösen soll. Die interaktiven, mit einer HoloLens ausgestatteten Pods kommen in Apotheken in verschiedenen amerikanischen Gemeinden zum Einsatz und bringen Arzneimittel- und Gerätehersteller mit einer Vielzahl von Menschen in Kontakt, deren überwiegender Teil andernfalls keine Möglichkeit gehabt hätte, mit diesen Studien in Berührung zu kommen. Darüber hinaus kann generative KI (GenAI) diejenigen, deren Muttersprache nicht die Sprache der Mehrheit der Bevölkerung ist, bei der Übersetzung unterstützen.
Wenn es um die Nutzung klinischer Forschungsdaten geht, kommt das enorme Potenzial künstlicher Intelligenz ins Spiel; und zwar sowohl in der Phase der Planung klinischer Studien als auch bei der Analyse der gesammelten Daten. Herkömmliche Analysetools können nicht alles im Blick behalten – aber KI hat die Fähigkeit, alle Informationen zusammenzuführen und Medizinerinnen und Medizinern zu helfen, besser informierte Entscheidungen zu treffen.
Zurück zum Thema Frauen. Damit wir das volle Potenzial von KI ausschöpfen und sicherstellen können, dass bei der Erfassung und Analyse medizinischer Daten keine geschlechtsspezifischen Diskrepanzen auftreten, müssen wir jetzt überlegen, wie wir eine Vielzahl von Patientinnen und Patienten erreichen und klinische Studien zugänglicher und ansprechender gestalten können. Der Einsatz immersiver Technologien, um Einblicke in die spezifischen Gesundheitsbedürfnisse von Frauen zu erhalten, ist eine Möglichkeit, diese Herausforderung anzugehen. Davon auszugehen, dass medizinische Behandlungen unserer Gesellschaft zugutekommen, ohne dass Frauen in deren Entwicklung angemessen vertreten sind, würde der Hälfte der Bevölkerung einen Bärendienst erweisen. KI birgt das große Potenzial, Ungleichheiten zu bekämpfen – und wir sollten diese Chance nicht verpassen.
Gaurica Chacko ist Global Domain and Consulting Head Life Sciences beim Beratungsunternehmen Wipro Limited. Ihr Schwerpunkt liegt auf geschäftlicher und digitaler Transformation, Cloud-Entwicklung, Gesundheitsgerechtigkeit sowie klinischen und kommerziellen Strategien. Außerdem ist sie Mitglied der WEF-Edison Alliance.