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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Gute Absicht – Vertane Chance

Rainer Westermann, Life Sciences Acceleration Alliance
Rainer Westermann, Life Sciences Acceleration Alliance

Das EU-Pharmapaket ist maßgebend für die Entwicklung von und den Zugang zu Arzneimitteln. Statt bestehende Probleme zu lösen, schrecke das Maßnahmenpaket aber forschende Pharmaunternehmen und vor allem Start-ups durch zu strenge Regulierungen und mangelnde Anreize ab. Das meint Rainer Westermann von der Life Sciences Acceleration Alliance.

von Rainer Westermann

veröffentlicht am 19.05.2023

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Die Pharma-Gesetzgebung in Europa soll runderneuert werden. Die EU-Kommission hat Ende April nach langer Verzögerung ihren Vorschlag für eine neue Direktive und Regulierung veröffentlicht und zur weiteren Erörterung an das EU-Parlament übergeben. Diese Direktive gibt nach der Umsetzung den Rechtsrahmen auf EU-Ebene und in den Mitgliedsstaaten vor. Nach Zustimmung der Mitglieder des Europäischen Parlaments wären die Bestimmungen für alle 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union rechtskräftig und bindend.

Die Absicht der Kommission hinter der Neuformulierung der Pharma-Gesetzgebung ist, ein attraktives, innovationsfreundliches Umfeld für Forschung, Entwicklung und Herstellung von Medikamenten in Europa zu gewährleisten und zu fördern. Der Hauptfokus liegt dabei auf der grundsätzlichen Versorgungssicherheit und einem verbesserten Zugang zu innovativen Behandlungsmöglichkeiten in allen EU-Ländern. Außerdem sollen Pharmazie und Biotechnologie in Europa gestärkt und die EU zu einem Innovations- und Forschungs-Hub global führender Unternehmen im Gesundheitsbereich werden. Der zu beobachtenden Abwanderung von zukunftsträchtigen und innovativen Unternehmen soll mit der neuen Gesetzgebung entgegengewirkt werden.

Neue Regulierung blockiert Zugänge

Soweit das hehre Ziel. In seiner jetzigen Form wird das Gesetzesvorhaben jedoch das Gegenteil zur Folge haben. Die Kommission versucht die Quadratur des Kreises – und scheitert. Grundsätzlich ist die Absicht zu begrüßen, allen EU-Bürgern gleichermaßen und schneller als bisher Zugang zu neuen Therapien zu eröffnen, die finanzielle Belastung der nationalen Gesundheitssysteme zu senken und gleichzeitig eine erfolgreiche Industrie umfassend weiter auszubauen. Jedoch ist der gewählte Weg an so mancher Stelle eher kontraproduktiv. Denn die Kosten für Unternehmen steigen und die Risiken für eine erfolgreiche Einführung neuer Medikamente in allen 27 Mitgliedsstaaten im vorgegebenen Zeitrahmen werden größer. Dies geht letztendlich zulasten der Patienten in Europa.

Eine Lizenzvergabe für die Vermarktung innovativer Behandlungsmöglichkeiten an mehrere Unternehmen ist nach dem aktuellen Gesetzentwurf nicht mehr möglich. Es bleibt nur die Lizenzvergabe im Paket – was lediglich für große Marktteilnehmer realisierbar ist und kleineren Unternehmen den Marktzugang massiv erschwert. Zudem werden dadurch die Preise der Lizenzen reduziert – was wiederum die Entwicklungsmöglichkeiten junger Unternehmen behindert. Letztere können Märkte nicht mehr sukzessive erschließen und dadurch nicht wachsen. Ein BioNTech wird es so in Zukunft dann nicht mehr geben können.

Neue Regulierung schreckt Investoren ab

Hinzu kommt, dass mangelnde Konkretisierung und steigende regulatorische Hürden des Gesetzesvorhabens die Unsicherheit für Investoren weiter vergrößern. Es wird so noch schwerer, junge Unternehmen mit Wagniskapital zu versorgen. Die Zeitspanne der Exklusivität für neue Medikamente herabzusetzen – wie im Entwurf der neuen Pharma-Gesetzgebung vorgesehen – und vage Incentives anzubieten, ist de facto kein Anreiz für Investoren. Vor allem, wenn damit Bedingungen verknüpft werden, die aktuell noch nicht genau definiert sind.

Zusätzliche Belastungen, wie vergleichende klinische Studien durchführen zu müssen oder die Anmeldung weiterer Indikationen, verringern für Kapitalgeber die Attraktivität, in innovative Therapien zu investieren. Kapital reagiert sehr empfindlich auf Veränderungen im Risikoprofil für Investments und fließt im Zweifelsfall in für Anleger attraktivere Bereiche. Die Kommission agiert mit dem aktuellen Gesetzesvorhaben, als könne Venture Capital künftig durch staatliches Kapital ersetzt werden. Dafür gibt es aber weder ausreichend Mittel auf europäischer und nationaler Ebene, noch gibt es Ersatz für die Expertise, die jungen Unternehmen von Wagniskapitalgebern zur Verfügung gestellt wird.

Es gibt bereits heute in der EU eklatant weniger Kapitalquellen für Venture Capital als in China und den USA. Es mangelt in der EU zudem an Liquidität im Kapitalmarkt und die vielen regulatorischen Belastungen schrecken Investoren ab. Start-ups werden sich dadurch gezwungen sehen, Standorte außerhalb der EU suchen zu müssen. Die Attraktivität der EU als Investitionsstandort für Life Sciences ist schon jetzt durch viele Faktoren geschwächt – und sie wird weiter an Glanz verlieren, sollten die Bestimmungen der EU-Kommission rechtskräftig werden.

Krebstherapien zu entwickeln, neue Antibiotika zur Bekämpfung von steigenden Resistenzen bereitzustellen, innovative Therapien für seltene Erkrankungen zu finden – der Finanzbedarf ist immens. Das Erfolgsmodell BioNTech war durch einige der größten VC-Runden in der europäischen Biotech-Geschichte sehr gut mit Wagniskapital ausgestattet. Nur deshalb war man in der Lage, so schnell den ersten, vollständig zugelassenen COVID-19-Impfstoff zur Zulassung zu bringen.

Weniger Bedingungen, mehr Anreize schaffen

Um ihre Ziele zu erreichen, müsste die EU aktiv die Verbesserung der Bedingungen für Venture-Capital-Investoren in den Fokus nehmen. Nur so werden medizinische Forschung und Entwicklung von Life-Science-Start-ups in Europa wirklich gefördert und können im internationalen Vergleich mittelfristig bis langfristig bestehen. Die Neuregelung auf EU-Ebene hingegen, wie sie im vorliegenden Gesetzesentwurf formuliert ist, gefährdet de facto die europäische Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig. Wer Risikokapital anziehen und den Life-Sciences-Sektor fördern will, muss Anreize bieten – und zwar mehr und nicht weniger. Wer will, dass herausragende Unternehmen in der EU wachsen, Arbeitsplätze schaffen und Steuern zahlen, muss Hürden abbauen und Unsicherheiten für Kapitalgeber reduzieren.

Vage definierte, nicht abgedeckte medizinische Bedürfnisse, die Bedingung, eine neue Therapie in allen 27 Mitgliedsstaaten zeitgleich einführen und zusätzliche vergleichende klinische Studien durchführen oder weitere Indikationen für ein Medikament anmelden zu müssen sind Gift für Wagniskapitalgeber. Die Marktexklusivität auf sechs Jahre zu reduzieren und in der Regel vier Jahre (in Ausnahmefällen sechs Jahre) unter bestimmten Bedingungen zurückzugeben, ist kontraproduktiv. Die EU muss bestehende Schutzzeiten garantieren und einführen. Das Gleiche gilt mit Blick auf Therapien für seltene Krankheiten, deren Marktschutz von zehn auf neun Jahre sinken soll. Sollten die Regularien auf EU-Ebene rechtskräftig werden, verspielt die EU die Zukunft eines ganzen Industriezweigs – mit allen Konsequenzen.

Rainer Westermann ist Vorstandsvorsitzender der Life Sciences Acceleration Alliance.

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