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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Hausärzte müssen als Lotsen im System

Markus Beier ist Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes
Markus Beier ist Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes Foto: Deutscher Hausärzteverband

Der Politik geht es weniger darum, ärztliche Ressourcen möglichst sinnvoll einzusetzen, um so Druck aus dem System zu nehmen, sondern eher darum, Anreize zu schaffen, möglichst schnell Termine zu vergeben. Dabei könnten Hausärztinnen und -ärzte die unkoordinierte Inanspruchnahme von Leistungen beenden.

von Markus Beier

veröffentlicht am 08.02.2023

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Kaum ein Thema wird in der gesundheitspolitischen Debatte so leidenschaftlich diskutiert wie das der Wartezeiten – und das ist auch nachvollziehbar. Wenn ich als Patient das Gefühl habe, dringend einen Arzttermin zu benötigen und dann gesagt bekomme, dass es mehrere Monate dauern kann, führt das verständlicherweise zu Frustration. Viele Patientinnen und Patienten fragen sich daher: Wofür zahle ich jeden Monat meine Krankenkassenbeiträge, wenn ich im Zweifel Monate auf einen (Fach)Arzttermin warten muss?

Die Politik beackert das Thema seit Jahren und wählt dabei beständig denselben Ansatz: Es sollen Anreize geschaffen werden, damit Hausarztpraxen und insbesondere Facharztpraxen schneller Termine vergeben. Dafür wurden zum Beispiel Terminservicestellen eingerichtet und Geld für die Vermittlung und die Vergabe von zeitnahen Terminen bereitgestellt. Jetzt gibt es sogar Gedankenspiele, private Firmen mit Versichertengeldern dafür zu bezahlen, dass sie online Termine vermitteln. Das ist natürlich ein besonders absurder Auswuchs, passt aber zu der Linie, die die Politik seit Jahren fährt: Es geht weniger darum, ärztliche Ressourcen möglichst sinnvoll einzusetzen, um so Druck aus dem System zu nehmen, sondern eher darum, Anreize zu schaffen, möglichst schnell Termine zu vergeben. Unabhängig der Frage, wie Patientinnen und Patienten zu ihren Terminen kommen, ist offensichtlich, dass jeder Termin nur einmal vergeben werden kann. Das, liegt auf der Hand, wird aber in der politischen Diskussion geflissentlich ignoriert. Man streicht gewissermaßen die Fassade immer wieder neu, kümmert sich aber nicht grundlegend um die marode Bausubstanz.

Deutsche gehen sehr oft zum Arzt

Die Erkenntnis ist nicht neu: Die Deutschen gehen im internationalen Vergleich sehr oft zum Arzt. Je nach Studie zwischen zehn und 17-mal pro Jahr. Einige dieser Termine sind aus medizinischer Sicht nicht notwendig. Dabei sollte jedem einleuchten, dass eine Reduktion medizinisch nicht notwendiger Arztbesuche Druck aus dem System nehmen würde. Ärztinnen und Ärzte hätten mehr Zeit für die individuelle Patientenbehandlung und die Wartezeiten würden sinken. Damit stellt sich aber die Frage, wie könnte dies erreicht werden?

Die Gründe für die intensive Inanspruchnahme von Arztterminen in Deutschland sind vielfältig. Ein Grund sind Aufgaben, die hauptsächlich bürokratischer Natur sind, den (Haus)Ärztinnen und (Haus)Ärzten aber aufs Auge gedrückt werden. Prägnantestes Beispiel sind die Arbeitsunfähigkeitsnachweise: Es gibt immer noch Arbeitgeber, die ab dem ersten Tag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) verlangen. Dieser Kontrollwahn auf Kosten unseres Gesundheitssystems muss endlich ein Ende finden.

Ein zweiter Grund sind die zum Teil wahnwitzigen Vergütungslogiken im EBM, wonach zum Beispiel ein Chroniker zweimal im Quartal bei seiner Ärztin oder seinem Arzt vorstellig werden muss – ganz egal, ob dies medizinisch sinnvoll ist oder nicht.

Der aber vielleicht wichtigste Aspekt, der insbesondere auch die fachärztlichen Kolleginnen und Kollegen extrem belastet, ist die vollkommen unkoordinierte Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen in der Regelversorgung.

Gefestigtes Verhältnis ist wichtig

Wir wissen inzwischen aus zahlreichen Studien, dass ein primärärztliches System, in dem die Hausärztinnen und Hausärzte immer die erste Anlaufstelle für die Patientinnen und Patienten sind, eine qualitativ bessere Versorgung ermöglicht. Dabei spielt übrigens nicht nur die Frage, ob eine primärärztliche Versorgung stattfindet, eine zentrale Rolle, sondern insbesondere auch, wie lange diese von der jeweiligen Patientin oder dem jeweiligen Patienten schon in Anspruch genommen wird. Kontinuität ist hier also entscheidend.

Ein weiteres Ergebnis, das sich inzwischen in Untersuchungen nachvollziehen lässt, ist, dass Patientinnen und Patienten durch eine vorgeschaltete hausärztliche Versorgung seltener spezialisierte Versorgung in Anspruch nehmen müssen.

Man muss nicht ins Ausland blicken, um dieses Phänomen beobachten zu können. Die Evaluationen zur Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) in Baden-Württemberg zeigen deutlich, dass Patientinnen und Patienten, die an der HZV teilnehmen, weniger unkoordinierte Facharztkontakte haben sowie eine geringere Hospitalisierungsrate.

Wer den Studien nicht traut, höre sich einfach einmal im Bekanntenkreis um. Ich kenne das aus eigener Erfahrung: Patentinnen und Patienten, die keine feste Hausärztin oder keinen festen Hausarzt haben, warten teilweise lange auf Facharztbesuche, nur um dort gesagt zu bekommen, dass man leider an die falsche Facharztrichtung geraten ist. Das ist schlichtweg ein Systemversagen.

Die Politik muss endlich den Mut aufbringen, einige Wahrheiten auszusprechen, die zu Beginn vielleicht nicht jeder hören will, die aber in die politische Diskussion gehören, damit in Zukunft Patientinnen und Patienten besser versorgt und Arztpraxen weniger belastet sind.

Versorgungsassistenzen werden wichtiger

Das Wichtigste: Patientinnen und Patienten sind durch unser System zu häufig gezwungen, vermeidbare Arztbesuche wahrzunehmen, schlichtweg weil sie niemanden haben, der sie durch das extrem komplexe Gesundheitssystem begleitet. Diese koordinierende Funktion können nur die Hausarztpraxen einnehmen. Das KV-System ist nicht in der Lage und gewillt, für diese hausärztliche Koordination ausreichend einzustehen. Es steht daher für mich außer Frage, dass die HZV das Versorgungskonzept der Zukunft ist.

Ein weiterer Punkt ist, dass in Zukunft nicht mehr immer alles sofort ärztlich adressiert werden kann und muss. Qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wie die Versorgungsassistenzen in der Hausarztpraxis (VERAH®), werden, unter der Leitung der Hausärztinnen und Hausärzte, mehr Aufgaben übernehmen, sodass wir Hausärztinnen und Hausärzte uns auf die Fälle konzentrieren können, die unsere Expertise wirklich brauchen.

Die Folge eines besser strukturierten Gesundheitswesens wird nicht sein, dass alle Deutschen mehr Arzttermine wahrnehmen. Die Konsequenz wird sein, dass die Patientinnen und Patienten, die die Termine wirklich brauchen, diese zeitnah in der richtigen Arztpraxis bekommen. Das wäre die effektivste und nachhaltigste Maßnahme gegen das Wartezeitendilemma.

Markus Beier ist Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes.

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