Die Eckpunkte des Bundesgesundheitsministers zum Pflegekompetenzgesetz sehen erweiterte Kompetenzen der Pflegefachkräfte in verschiedenen Bereichen der häuslichen Krankenpflege, der Langzeitpflege und im Krankenhaus vor. Die angestrebte Aufwertung der Pflegeberufe ist generell zu begrüßen. Sie bietet eine Chance, den Pflegeberuf attraktiver zu machen, was dem Fachkräftemangel entgegenwirken soll.
Doch daneben enthalten die Eckpunkte auch den fragwürdigen und riskanten Plan, die Begutachtung der Pflegebedürftigkeit künftig durch Pflegefachkräfte der Pflegeeinrichtungen vornehmen zu lassen. Das brächte jedoch mehrere schwerwiegende Risiken mit sich:
1. Im Interesse der Pflegebedürftigen und auch der Beitragszahler in der Sozialen Pflegeversicherung, Privaten Pflegepflichtversicherung und den privaten Pflegezusatzversicherungen muss die Unabhängigkeit der Pflegebegutachtung gewahrt bleiben. Die Versicherten haben einen Anspruch darauf, dass unabhängig begutachtet wird. Dies gilt insbesondere auch in Fällen, in denen Patienten aus dem Krankenhaus entlassen werden sollen und zum Beispiel im Anschluss einen Pflegedienst benötigen. In diesen Situationen darf auf keinen Fall das Interesse eines Krankenhauses, seine Betten freizumachen, Druck auf die Pflegebegutachtung ausüben. Schon jeder Anschein eines solchen sachfremden „Deals“ auf dem Rücken der Patienten muss vermieden werden.
2. Die Unabhängigkeit der Gutachterinnen und Gutachter ist auch deshalb besonders wichtig, weil nur so belastende Gewissenskonflikte zu verhindern sind. Wenn Pflegekräfte bei den von ihnen pflegerisch versorgten Menschen die Begutachtung vornehmen sollen, ist die Unabhängigkeit nicht sichergestellt. Die Pflegekräfte stehen dann unter dem Druck der Erwartungshaltung „ihrer“ Pflegebedürftigen, zumal wenn sich eine gewisse menschliche Nähe entwickelt hat. Das ist weder den Pflegekräften zuzumuten noch mit der Unabhängigkeit des Gutachtens vereinbar. Die Fairness gegenüber den Versicherten erfordert, dass die Begutachtung für alle nach gleichen Maßstäben erfolgt und die Versicherten gerecht behandelt werden.
3. Die zeitliche Belastung oder sogar Überlastung der Pflegekräfte würde verschärft, wenn man zusätzlich nun auch noch diese nicht nur fachlichen, sondern auch mit administrativem Aufwand verbundenen Aufgaben auf die Pflegedienste und Einrichtungen verlagert. Den Pflegekräften immer mehr Aufgaben zuzuweisen, die mit pflegerischer Versorgung nicht in erster Linie zu tun haben, um im Gegenzug die Medizinischen Dienste der Krankenversicherungen zu entlasten, das wäre ein Bärendienst für die Pflegequalität. Die Einrichtungen müssten für die Begutachtung aufwändig neue Strukturen aufbauen. Das würde die Lage in den ohnehin schon unter Fachkräftemangel leidenden Einrichtungen verschlechtern.
4. Eine Begutachtung durch Pflegefachkräfte einer Pflegeeinrichtung birgt zudem die Gefahr von „Geschäften zulasten Dritter“. Denn sowohl die Pflegebedürftigen drängen meist auf eine möglichst hohe Einstufung und dementsprechend höhere Versicherungsleistungen – als auch die Pflegedienste haben ein Eigeninteresse an möglichst hohen Leistungen. Hier droht eine „Selbstbedienung“ zulasten der beitragszahlenden Versicherten. Denn schließlich folgt auf die Feststellung der Pflegebedürftigkeit in der Regel auch die dauerhafte Leistungszusage. Dass Pflegefachkräfte die Versorgung übernehmen und gleichzeitig als Gutachter über die Höhe der Leistungen bestimmen können, verletzt das Gebot des wirtschaftlichen Umgangs mit den Beitragsgeldern der Versicherten. Dies könnte die schwierige finanzielle Lage der Pflegeversicherung noch mehr verschärfen.
Begutachtungsformate sollten weiterentwickelt werden
Die Pflegebegutachtung wird bereits seit langer Zeit sehr kompetent durch Pflegefachkräfte der Medizinischen Dienste der GKV sowie für die Private Pflegepflichtversicherung durch die unabhängigen Gutachterinnen und Gutachter von Medicproof durchgeführt. Es sind schon jetzt – neben Ärztinnen und Ärzten – auch Pflegefachkräfte als Gutachter tätig. Weil dies bei Medicproof auf Honorarbasis erfolgt, kann es als Nebentätigkeit ausgeübt werden. Dadurch geraten die Pflegefachkräfte nicht in Gewissenskonflikte, weil sie keine Personen begutachten, die sie im Hauptberuf selbst pflegerisch versorgen. So können sie die Begutachtung objektiv und unabhängig vornehmen.
Durch Schulungen, Fortbildungen und ständige Qualitätssicherung gewährleistet Medicproof eine bundesweit auf gleichen Maßstäben beruhende und damit gerechte Begutachtung. Dieses spezialisierte System ist zudem wesentlich wirtschaftlicher, als wenn eine Pflegeeinrichtung zusätzliche Schulungen und Fortbildungen organisieren muss, zudem die Qualitätssicherung durchführen muss und überdies einen technisch und rechtlich sicheren Datenaustausch mit den Versicherten, Pflegekassen und Versicherungsunternehmen aufbauen muss.
Alle diese Argumente sprechen klar gegen ein solches Modellprojekt und erst recht dagegen, so etwas als Regelversorgung vorzuschreiben. Stattdessen gibt es wesentlich effizientere und modernere Lösungen, um die Medizinischen Dienste zu entlasten – ohne die Pflegekräfte mit Mehrarbeit zu belasten. Dazu nur einige Beispiele:
- Die Begutachtungsformate sollten weiterentwickelt werden, um die Begutachtung zu beschleunigen und Aufwände zu reduzieren.
- Bürokratische Hürden in den heutigen Vorschriften, z. B. zu Begutachtungsfristen und Fristhemmnissen, können und sollten abgebaut werden.
- Die Digitalisierung kann und sollte im Begutachtungsverfahren stärker genutzt werden.
Anne Kristina Vieweg ist Geschäftsführerin Pflege des PKV-Verbandes.