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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Krise mit traumatischem Charakter

Hans-Peter Selmaier leitet als Chefarzt die Parkklinik Heiligenfeld in Bad Kissingen
Hans-Peter Selmaier leitet als Chefarzt die Parkklinik Heiligenfeld in Bad Kissingen Foto: Steffen Schneider

Im Standpunkt erklärt Hans-Peter Selmaier, Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Psychoanalyse sowie für Innere Medizin, wieso ein Krieg mitten in Europa für den Einzelnen nicht zu verstehen ist, wieso Verdrängung und Verleugnung nicht mehr funktionieren und was passiert, wenn die eigene Abwehr versagt und was dagegen getan werden kann.

von Hans-Peter Selmaier

veröffentlicht am 11.04.2022

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In Europa herrscht Krieg und die gesamte Welt befindet sich in einem globalen Schockzustand. Auf eine bereits erschöpfte Nation treffen Kriegsangst und traumatisierende Bilder von der Flucht der Menschen. Das alles kann zu Angst und Panik führen. Schlafstörungen, Angststörungen oder Depression können die Folge sein. Doch was kann man gegen die aufkommende Angst tun?

Der aktuelle Ukraine-Konflikt stellt eine schwere historische akute internationale Krise mit traumatischem Charakter dar. Weltpolitische Krisen wie dieser Krieg wirken über den Kreis der unmittelbar Beteiligten hinaus und tragen die Gefahr einer globalen Eskalation in sich. Zeitlich geschieht dies im Anschluss an die noch weiterbestehende COVID-19-Pandemie mit all ihren unbewältigten und noch nicht absehbaren Folgen. Für den Einzelnen als auch für die menschliche Gemeinschaft bedeutet dies eine enorme Stressbelastung und Traumatisierung von kumulativem Charakter mit massivem Ressourcenverbrauch. Neben die Stressbelastung tritt gleichzeitig – zumindest in unserer Fantasie – eine gewaltige Katastrophe, bis hin zu Verderben und grausamen Tod in einer atomaren Apokalypse oder ein wirtschaftlicher beziehungsweise finanzieller Untergang bis hin zu Armut, Hunger und Kälte, Plünderung, Mord und Barbarei.

Verdrängung und Verleugnung funktionieren nicht mehr

Bereits Corona stellte und stellt sich als wenig kontrollierbare Gefahr und Bedrohung des Einzelnen, der Angehörigen und der Gesellschaft dar. Ausmaß und Verlauf der Erkrankung und ihrer Folgeerscheinungen wie Long beziehungsweise Post COVID erscheinen nicht ausreichend erfassbar; das Ausmaß der Spätfolgen und ihre Reversibilität sind noch nicht absehbar. Man weiß auch nicht, welche Mutationen des Virus noch entstehen. Auch der Nutzen von Schutz- und Abwehrmaßnahmen ist nicht so eindeutig erkennbar, wenn ich zum Beispiel an die Impfdurchbrüche denke oder das teilweise wiederholte Auftreten der Erkrankung trotz vollständiger Impfung und Boosterung. Hilflosigkeit und Ohnmacht werden erzeugt. Gleichzeitig sind Menschen mehr auf sich gestellt und müssen für sich und ihre Angehörigen allein und mit nicht ausreichender Unterstützung sorgen wie zum Beispiel in Zusammenhang mit dem Schulunterricht der Kinder.

Ein Krieg mitten in Europa ist für den Einzelnen nicht verstehbar, handhabbar und auch ohne erkennbaren Sinn. Es läuft eine ausgeprägte destruktiv-autodestruktive Dynamik intrapsychisch und interpersonell ab. Gegenwärtige Generationen sind durch den in Europa herrschenden Frieden nach zwischenzeitlicher Beendigung des Ost-West-Konflikts und der daraus resultierenden Pseudosicherheit auf einen solchen Einbruch nicht vorbereitet. So wichtig eine eigene friedvolle beziehungsweise pazifistische Einstellung generell ist, so ist umgekehrt nicht davon auszugehen, dass andere dieselbe Haltung haben.

Jetzt ist die Bedrohung im Gegensatz zu anderen Kriegen sehr nah und unmittelbar, so dass Verdrängung und Verleugnung nicht mehr funktionieren und die eigene Abwehr versagt. Kontrollierbarkeit besteht nicht, Abhilfen erscheinen nicht möglich, eigene innere oder externe Ressourcen stehen zumindest nicht ausreichend zur Verfügung. Es drohen individuelle und gesellschaftliche Regressionen, die zu akuten Belastungsstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen, Anpassungsstörungen, einschließlich Trauerreaktionen, depressiven Störungen und Angststörungen, somatoformen und dissoziativen Störungen führen und einen Anstieg der Suizidalität entstehen lassen können. Ergänzend kann es zur Fehlkompensation durch missbräuchliches und süchtiges Verhalten kommen, ob stoffgebunden oder nicht. Auch aggressive und destruktive Verhaltensweisen erhalten Aufschwung und verstärken die Bedrohlichkeit der Situation. Letztlich kann es aber jeden von uns treffen.

Fünf Maßnahmen gegen Angst und Panik

Wie lassen sich Angst und Panik „entkatastrophisieren”? Gegen Panik und Kriegsangst hilft eine Reihe von Maßnahmen. Im Sinne einer Prophylaxe können wir erstens den Medienkonsum einschränken und uns vielleicht nur ein- bis zweimal täglich informieren unter Beachtung der eigenen Befindlichkeit und der Belastbarkeit. Sinnvoll ist auch die Inanspruchnahme möglichst sachlicher und vertrauenswürdiger Informationsquellen. Zweitens geht es darum, einen geregelten Tagesablauf aufrechtzuerhalten, wozu auch regelmäßige Mahlzeiten und vielleicht auch Rituale gehören. Entsprechend ist ausreichender Schlaf von großer Bedeutung. Drittens gilt es eigene Ressourcen zu aktivieren oder neue zu entdecken, wozu auch Spiritualität und Religiosität gehören können.

Günstig ist es in irgendeiner Form kreativ zu werden wie zum Beispiel durch malen, gestalten oder musizieren. An die Stelle von Passivität und hilfloser Opferhaltung sollte eine aktive Haltung treten. Ganz wichtig ist es, wieder Kontakt zur Natur und dem Wald zu entwickeln. Aber auch Bewegung und Sport haben eine antidepressive und angstlösende Wirkung. Und fünftens sollten wir wieder Kommunikation und Gemeinschaft pflegen, um einem weiteren Rückzug Öffnung entgegenzusetzen. Dabei sollte auch körperliche Nähe zu Mitmenschen wie zum Beispiel Umarmungen wieder eine größere Rolle spielen, aufgrund der damit verbundenen Oxytocin-Ausschüttung. Aber auch der Kontakt zu Tieren kann sehr hilfreich sein. Auch Meditationen jeglicher Art – Yoga und Qi Gong beziehungsweise Tai Chi sind förderlich. Infrage kommen aber auch Entspannungsübungen, wie Atementspannung, autogenes Training, progressive Muskelentspannung und funktionelle Entspannung. Wir können auch selbst in Aktion kommen und gegen den Krieg beziehungsweise für den Frieden demonstrieren oder Petitionen unterschreiben. Außerdem kann man Sachen spenden, sich an Ankerzentren wenden, Flüchtlinge aufnehmen und Hilfe anbieten.

Dr. Hans-Peter Selmaier ist Arzt für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Psychoanalyse sowie für Innere Medizin. Als Chefarzt leitet er die Parkklinik Heiligenfeld in Bad Kissingen.

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