Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ist ein Freund von Evidenz, das betont er selbst gerne. Leider hält er sich nicht immer daran. Wenn er über medizinische Versorgungszentren (MVZ) spricht, sind nachweisbare, empirische Fakten, also Evidenz, in weiter Ferne.
Lauterbach hat rund um Weihnachten sehr populistisch das Engagement von privaten Kapitalgebern in MVZ in der ambulanten Versorgung kritisiert. In der Bild-Zeitung sprach er davon, den „Einstieg von Heuschrecken“ durch Gesetzesänderungen zu unterbinden. Im Interview mit der Zeit warnte er vor „Investoren“, die Praxen übernehmen würden, um damit „Geld zu machen“, durch „Investoren-Medizin“ drohe eine „billige Massenabfertigung“.
„Heuschrecken“? Nicht in Sicht
Die Debatte um die 2004 eingeführten MVZ ist im vergangenen Jahr schärfer geworden. Besonders MVZ-Gruppen mit privaten Kapitalgebern werden von Teilen der Politik und der Medien geradezu angefeindet. Es wird hier das – falsche – Bild gezeichnet, MVZ-Gruppen würden „immer mehr“ und bald den „Markt übernehmen“.
Hierzu ein wenig Evidenz: Alle MVZ-Träger haben in der Humanmedizin Ende 2021 rund 13 Prozent aller ärztlichen Sitze betrieben. 5,4 Prozent der Sitze liegen bei einem MVZ mit Krankenhausträger. Der Anteil der Sitze in MVZ-Gruppen mit privaten Kapitalpartnern wird bundesweit als oberer Richtwert auf 1,3 Prozent geschätzt, wie der gemeinnützige Bundesverband Medizinische Versorgungszentren – Gesundheitszentren – Integrierte Versorgung e.V. ausgerechnet hat. Das ohnehin diffamierende Bild von „Heuschrecken“, die angeblich über die Praxislandschaft hereinbrechen, ist also evidenzbasiert nicht zu belegen.
Ordnungspolitisch ist die freie Arztwahl Ausdruck eines gewollten Qualitätswettbewerbs, wozu MVZ-Gruppen ihren Beitrag leisten. So wie jede Praxis von selbstständig Niedergelassenen müssen MVZ selbstverständlich auch wirtschaftlich sein. Wie sollen sie sonst ihre Beschäftigten bezahlen und wie ihre Investitionen finanzieren? Die meisten Medizinischen Einrichtungen, darunter viele Einzelpraxen, unterliegen Renditeerwartungen, denn auch sie finanzieren ihre Investitionen üblicherweise durch Kredite. Warum ist die eine Form (Einzelpraxis) politisch gewollt, die andere (MVZ-Gruppen) dagegen nicht? Die Ausgangslage ist die gleiche.
Nicht vom Mythos ins Drama wechseln
In der öffentlichen Debatte wird oft allein anhand des Trägers die medizinische Qualität beurteilt. Den MVZ-Gruppen wird vorgeworfen, es würden mehr oder unnötige Behandlungen abgerechnet, wirtschaftliche Gesichtspunkte seien ausschlaggebend. Belastbare Belege dafür fehlen. Fakt ist: MVZ-Gruppen müssen immer eine ärztliche Leitung haben, das ist gesetzlich vorgeschrieben. Die dort angestellten Ärztinnen und Ärzte arbeiten weisungsfrei. Dafür sind sie in MVZ-Gruppen von Organisatorischem befreit und können sich auf das Medizinische konzentrieren.
Fast 59 Prozent von ihnen betonen denn auch, dass sie in MVZ-Gruppen mehr Zeit für ihre Patientinnen und Patienten haben, wie eine Umfrage unter den in BBMV-Mitgliedsunternehmen angestellten Ärztinnen und Ärzten ergab. Die gute, niedergelassene, selbstständige Einzelpraxis im Gegensatz zur bösen MVZ-Gruppe – das ist ein realitätsferner Mythos. Ein Drama wäre es, mit ihm gegen MVZ-Gruppen vorzugehen.
MVZ-Gruppen sind unverzichtbar
Eine Studie für das Bundesgesundheitsministerium kam im November 2020 zu dem Schluss, dass MVZ „einen wesentlichen und unverzichtbaren Beitrag zur ambulanten vertragsärztlichen Versorgung“ leisten. Der Verband der Ersatzkassen spricht sich klar für die Trägervielfalt aus. Ohne die MVZ-Gruppen ist der Umbruch der ambulanten Versorgung in den nächsten Jahren nicht zu stemmen:
- Unzählige Ärztinnen und Ärzte werden altersbedingt ihre Praxen aufgeben. Es zeichnet sich ab, dass junge Medizinerinnen und Mediziner seltener als Selbstständige arbeiten wollen. In MVZ-Gruppen haben sie als Angestellte eine bessere Work-Life-Balance, sie können sich auf die medizinische Versorgung der Patientinnen und Patienten konzentrieren und haben den gewünschten kollegialen und fachlichen Austausch direkt in der Praxis.
- Dem Ärzte-Mangel auf dem Land begegnen viele MVZ-Gruppen schon jetzt mit wohnortnahen Zweig-Niederlassungen. Mit rotierenden Arbeitsorten können Ärztinnen und Ärzte zeitweise dort arbeiten, ohne sich niederlassen zu müssen. Diese Modelle sind erfolgreich und praktikabel.
- Die notwendige Ambulantisierung, Digitalisierung und der technische Fortschritt werden teuer. MVZ-Gruppen investieren fortlaufend in moderne Ausstattungen, es kommt nicht, wie bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, darauf an, ob diese sich das gerade „leisten“ können. Die Patientinnen und Patienten profitieren so von modernen Geräten und digitalisierten Prozessen, etwa effizienterer Terminvergabe.
„Investoren-Medizin“ und „billige Massenabfertigung“ sieht anders aus. Nur wenn in MVZ-Gruppen die Patientinnen und Patienten medizinisch gut behandelt werden, können sie auch ökonomisch langfristig erfolgreich sein. Beides streben sie faktisch an, selbst wenn der Gesundheitsminister etwas anderes behauptet.
Sibylle Stauch-Eckmann ist Vorsitzende der Betreiber medizinischer Versorgungszentren (BBMV), CEO der Ortheum Gruppe und Aufsichtsratsmitglied der amedes Gruppe.