Fünf Millionen alter Menschen bedürfen heute kontinuierlich der Pflege, um zu überleben. 4,2 Millionen leben für sich oder in der Familie, immer noch selbständig trotz Pflegebedürftigkeit, meist von den Frauen der Familie betreut. Die Pflege kommt zu ihnen mit mobilen Diensten. Im Jahr 2000 gab es zwei Millionen Pflegebedürftige im Land, in 30 Jahren sollen es sieben Millionen sein.
Rund 800.000 Pflegebedürftige leben in Heimen. Der Wegzug in ein Heim ist wie Migration: 800.000 lassen ihr gewohntes Zuhause zurück – das Haus, die Wohnung und die vertraute Straße mit Nachbarn, Freunden, mit Geschäften, in denen man die Alten kennt. Sie gehen mit wenigen Gegenständen und Erinnerungsstücken, um anderswo ein neues Zuhause zu finden. Tiefe Einschnitte vor der letzten Etappe, vor dem Lebensende. Weit über 300.000 Pflegebedürftige sterben übrigens jedes Jahr in Heimen.
Wieder beim Zustand vor der Pflegeversicherung
Die Pflegebedürftigen bringen ihre Einkommen und Ersparnisse mit ins Heim. Für Unterbringung und Verpflegung, für die Investitionen des Heims – und auch für Pflegekosten, die die Pflegeversicherung nicht übernimmt, müssen sie selbst aufkommen. In deutschen Pflegeheimen werden hierfür zwischen 2500 und 3000 Euro im Monat berechnet.
Statistisch gesehen haben Ehepaare im Alter etwa 3000 Euro im Monat Haushaltseinkommen zur Verfügung, alleinstehende Männer rund 1900 Euro, alleinstehende Frauen etwa 1700 Euro. Wichtig: Das ist der Durchschnitt. Daher reichen in vielen Fällen die Mittel der Pflegebedürftigen nicht. Die Differenzen übernehmen die Sozialämter, und zwar in 40 bis 60 Prozent der „Fälle“. Diese Unterstützung war 1994 für den Gesetzgeber Grund, eine Pflegeversicherung zu beschließen. Nun ist der Zustand wieder erreicht, den die Pflegeversicherung beenden wollte.
Am Ende bleibt ein Barbetrag von etwa 150 Euro pro Monat für private Dinge. Davon bleibt am Ende des Monats meist kein Cent übrig. Zweimal Schneiden und Legen der Haare einer alten Dame im Monat macht zwischen 60 und 70 Euro – fast die Hälfte. Muss Kleidung und Unterwäsche ersetzt werden, bleibt nichts mehr für einen Kaffeeklatsch. Man sagte mir vor einigen Jahren zu meiner Verblüffung, als ich in meiner Heimat auf ein miserables Angebot an Unterkleidung für alte Frauen hinwies: „Für so was gibt’s ja wohl noch Woolworth.“
Experten warnen vor humanitärer Katastrophe
Im sozialen Teilsystem Pflege stecken Millionen guter Leute, die oft bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit arbeiten und so die Pflege am Laufen halten. Manches ist aber nun ins Rutschen geraten. Es fehlen bereits Hunderttausende angelernte und versierte Pflegerinnen und Pfleger. Es fehlen spezialisierte Mediziner. Statt mehr Neubauten gibt’s mehr und mehr Insolvenzen im Pflegebereich – allein in Nordrhein-Westfalen im vergangenen Jahr 130 wegen gestiegener Sach- und Personalausgaben.
Rundum Mangel. Parlamente und Regierungen wissen, was es geschlagen hat. Man spricht davon, dass eine humanitäre Katastrophe heraufziehe – Krankenkassen befürchten das, die Diakonie, die Caritas. Auch in Berlin ist das so.
Humanitäre Katastrophe würde heißen: Pflegebedürftige Menschen bekämen nicht mehr, was sie benötigen. Statt Hilfe und Zuwendung mehr Einsamkeit, Alleinsein, Sterben ohne Begleitung, zuvor Schmerzen, unzureichende Therapie und das Wissen, gegen Ende des Lebens verlassen zu sein. All das tausendfach. Was hier droht, das ist Resultat eines Jahrzehnts der Vernachlässigung der Pflegeversicherung durch Legislative und Exekutive.
Heime sollten sich auf schwere Fälle konzentrieren
Da nicht abzusehen ist, dass die Pflegeversicherung demnächst finanziell erhalten wird, was sie braucht, und auch weil sich hunderttausende Arbeitskräfte für Pflege und Betreuung nicht herbeizaubern lassen, muss ein anderer Weg eingeschlagen werden.
1. In den Pflegeheimen muss all das, was nicht von Menschen getan werden muss, abgegeben werden: an Betten, die sich selbst richtig einstellen, die auf veränderte Körperfunktionen reagieren und Veränderungen beim Pflegebedürftigen melden.
2. Vieles ließe sich auf digital arbeitende Geräte übertragen – bis hin zu Teilen der notwendigen Dokumentation von Leistungen.
3. Leserinnen und Leser werden vielfach wissen, dass Pflegebedürftigkeit nach fünf Pflegegraden definiert wird. Von einer leichten, geringen Beeinträchtigung der Selbständigkeit (Grad eins) bis zur allerschwersten Beeinträchtigung der Selbständigkeit (Grad fünf). Man wird in der Gesetzgebung und in der Verwirklichung des Rechtsanspruchs auf Pflege Wege finden müssen, um stationäre Versorgung in Heimen auf die sehr schwere und die schwerste Beeinträchtigung der Selbständigkeit (die Grade vier und fünf) zu konzentrieren. Alle anderen Beeinträchtigungen der Selbständigkeit werden der ambulanten Versorgung zugeordnet. Das wird schon schwierig genug werden. Heute ist es vielfach so, dass alte Menschen in der Erwartung künftig schwieriger werdender Lebenssituationen ins Heim gehen. Die Zahl der in Heimen Unterzubringenden würde sinken und die Pflege würde sich auf geringere Zahlen konzentrieren.
4. Die schwierigste Aufgabe kommt auf Gemeinden und Städten zu. Die Entwicklung in den einzelnen Stadtbezirken und „Kiezen“ muss systematisch auf Pflegetauglichkeit hin überprüft werden. Heute wird von vornherein überlegt, wo eine Kita hingebaut werden muss. Diese Denkweise muss auch für Beratung, für Treffs, für Transport, für die medizinische Versorgung und für den Tagesbedarf von Pflegebedürftigen gelten. Man muss künftig präzise wissen, wie und wohin Warenströme und Dienstleistung hingebracht werden müssen, damit selbständiges Leben organisiert werden kann. Hierher gehört auch die Frage: Sind Wohnungen altengerecht, für Pflegebedürftige, für eingeschränkt bewegliche Menschen geeignet? Auch das wird nicht einfach werden, denn Familien sind heute häufiger auseinandergerissen als früher.
5. Die Vereinbarkeit von Pflege daheim und Erwerbstätigkeit von Familienmitgliedern ist eine Schlüsselgröße. Im Koalitionsvertrag der Ampel wird hierfür eine neue „Lohnersatzleistung“ versprochen. Da alle vorhandenen Mittel bereits durch die Kindergrundsicherung aufgesogen werden, wird es jetzt nichts damit. Zwar gibt es ein höheres Pflegegeld und die Möglichkeit, ein Budget aus verschiedenen Leistungen zu bilden. Aber ein richtiges Äquivalent etwa zur Finanzierung eines Pflegekindes in einer Familie gibt es nicht.
Unter Bedingungen der Knappheit in den öffentlichen Haushalten wird es keinen anderen Weg geben, als den eben skizzierten. Die wichtigste Ressource ist in diesem Zusammenhang schließlich die Zeit: Kein Tag darf angesichts der rasenden demografischen Entwicklung verschwendet werden.
Klaus Vater (77) war Büroleiter des SPD-Sozialexperten Rudolf Dreßler, Sprecher des Bundesarbeitsministeriums unter Walter Riester (SPD), Sprecher der langjährigen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und stellvertretender Regierungssprecher. Der gelernte Politologe und Redakteur lebt mittlerweile wieder in Bonn, er betätigt sich dort als Kommunikationsberater und Autor.