Am 4. Oktober hat der Bundesgesundheitsminister vier wesentliche Eckpunkte der angestrebten Pflegeversicherungsreform mittels Interview in der Bild am Sonntag „veröffentlicht“. Medial ist fast nur der Ansatz der Deckelung der pflegebedingten Eigenanteile in der stationären Pflege aufgegriffen worden. Wer die Medienberichte verfolgt, gewinnt den Eindruck, dass Pflege im Sinne der Pflegeversicherung, nur in Pflegeheimen stattfindet. Dabei zeigen die Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) aus 2019 etwas anderes: fast vier Fünftel der Personen mit einem Pflegegrad (1-5) werden ambulant versorgt, die restlichen 21 Prozent stationär. Das größte „Heim“ für zu pflegende Personen ist damit die eigene Wohnung. Daher lohnt es sich, auch die weiteren Ansätze zu betrachten und aus Sicht ambulanter Versorgungsangebote zu bewerten.
Nichtbelastung von Pflegebedürftigen nur partiell eingelöst
Die jährliche Anpassung von Pflegegeld und Pflegesachleistungen an die Inflationsrate ist vielversprechend und greift eine langjährige Forderung, die Leistungen zu dynamisieren, auf. Das ABER folgt mit Blick auf den nächsten Reformpunkt, der die Abrechnungsfähigkeit von Pflegesachleistungen mit der Pflegekasse an die Zahlung eines Tariflohns knüpft. Damit wird ordnungs- und verfassungsrechtlich die positive wie negative Koalitionsfreiheit im Rahmen der Tarifautonomie ausgehebelt.
Wirtschaftlich ist die Koppelung der Leistungsdynamisierung an die Inflationsrate, und eben nicht an die Entwicklung der Tarif- beziehungsweise Reallöhne aller Beschäftigten in der Altenpflege, ein Problem. In den letzten Jahren sind die Tarifvergütungen, gemessen am Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (umfasst auch die Pflege als einen der Leittarife) zwischen 2,4 und 3,2 Prozent jährlich gestiegen. Schaut man sich alle Beschäftigten der Altenpflege (IAB, 2020) an, also um die Beschäftigten ohne Tarifbindung ergänzt, dann liegt die Steigerung sogar bei bis zu fünf Prozent pro Jahr. Die Inflationsraten lagen in den Jahren 2016 bis 2019 zwischen 0,5 und 1,8 Prozent. Im Jahr 2020 wird die Inflationsrate sogar nur bei rund null Prozent liegen.
Die geforderte und vom Bundesgesundheitsminister versprochene Nichtbelastung der pflegebedürftigen Personen durch steigende Personalkosten wird damit nicht erreicht, denn die nicht gedeckten Personalkostensteigerung führen zu höheren Kosten, die nur teilweise durch ein steigendes Sachleistungsbudget kompensiert werden. Nur in der stationären Pflege löst Jens Spahn das Versprechen durch die Deckelung der pflegebedingten Eigenanteile ein. In der ambulanten Pflege kommt es dagegen zu weiterhin steigenden Zusatzkosten, die die zu pflegenden Personen oder deren Angehörigen bezahlen müssen. Reicht das Einkommen nicht, bleibt nur der Weg zum Sozialamt und die Beantragung von Sozialhilfe. Ambulant wird die Hilfe zur Pflege bisher nur im geringen Umfang genutzt. Der Anteil jedoch deutlich zunehmen, wenn die Familien ihre persönliche Pflegetätigkeit nicht weiter ausdehnen können. Auf den Punkt gebracht: Für 20 Prozent der pflegebedürftigen Menschen findet keine Mehrbelastung aus steigenden Pflegekosten statt. Für die anderen 80 Prozent wird die schleichende Entwertung der Pflegesachleistung fortgeführt. Daher wäre die Koppelung an einen anderen Kostenindex angebracht. Ein Vorschlag ist, einen Pflegekostenindex vom Bundesamt für Statistik zu führen, der als Dynamisierungsmaßstab die echte Kostenentwicklung in der Altenpflege abbildet und zugleich, in einem wettbewerblichen Angebot, einen Moral-Hazard Effekt der Pflegeanbieter und der Tarifparteien vermeidet.
Ein angemessener Gewinn gehört dazu
Ein weiterer Aspekt wird in der Diskussion zur Ausgestaltung tarifgebundener bzw. tarifangelehnter Vergütungen in der Pflege immer wieder unterschlagen: Gemeinnützige und gewerbliche Pflegeanbieter unterliegen dem Unternehmensrecht und im Krisenfall auch dem Insolvenzrecht. Sie müssen Gewinne erwirtschaften, unter anderem um das Unternehmen und die damit verbundenen Arbeitsplätze nicht zu gefährden. Gemeinnützige Unternehmen haben kein Gewinnverbot, sondern nur ein Ausschüttungsverbot erwirtschafteter Gewinne. Das bedingt, dass den unternehmensindividuellen Voraussetzungen entsprechend Überschüsse erwirtschaftet werden müssen. Ist der Preis von Pflegedienstleistungen nur an die Personalkosten gekoppelt und werden nicht die gesamten Erbringungskosten berücksichtigt, führt dies zu einer unternehmerischen Gefährdung des Pflegeanbieters. Die Unternehmer und deren Gesellschafter, das gilt übrigens auch für kommunale Strukturen, sind dann gezwungen, Insolvenz anzumelden.
Dies würde die Pflegeinfrastruktur massiv gefährden und kann nicht gewollt sein. Daher bedarf es eines möglichst bundesweit geltenden Preisfindungsverfahrens für Pflegedienstleistungen, das transparent und nachvollziehbar die Gestehungskosten abbildet und die unternehmerischen Rahmenbedingungen berücksichtigt. Inklusive einer Vergütung der unternehmerischen Tätigkeit und des damit verbundenen Risikos. Auch ein angemessener Gewinn gehört dazu. Kommunale Gesellschaften kalkulieren diesen übrigens auch immer in ihre Preise ein. Ein Blick in die Jahresabschlüsse zeigt dies deutlich. Kommunale Gesellschaften arbeiten ebenso wie Pflegeanbieter mit dem Geld der Bürger und Steuerzahler. Warum hier unterschiedliche Maßstäbe an die unternehmerische Tätigkeit angesetzt werden, ist nicht nachvollziehbar.
Budgetbündelung ein richtiger Schritt
Die Bündelung der Budgets für Verhinderungs- und Kurzzeitpflege, verbunden mit einer Anhebung auf zusammen 3.330 Euro, ist eine richtige Entwicklung. Hierbei kommt es jedoch wesentlich auf eine praktikable Umsetzung aus Sicht der pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörigen an. Die Voraussetzungen sollten nicht zu kleinteilig geregelt werden.
In den bekannt gewordenen Eckpunkten fehlen Aussagen zur virtuellen, digitalen Leistungserbringung leider immer noch. Pflege und Betreuung wird weiterhin sehr analog betrachtet, auch wenn es inzwischen viele gute Lösungen für ergänzende und begleitende digitale Angebote gibt. Diese können sich bisher nur gutverdienende Pflegebedürftige leisten. Hier besteht somit noch Nachbesserungsbedarf.
Von einer Reform der Pflegeversicherung zu sprechen, ist sicher mit Blick auf die bekannten Eckpunkte zu viel. Die nun bekannt gewordenen Eckpunkte sind eine Weiterentwicklung, die tendenziell in die richtige Richtung geht. Jedoch bedarf es in der weiteren Konkretisierung gerade auch die Berücksichtigung ambulanter Pflegesituationen. Ansonsten findet eine Teilreform oder Teilentwicklung statt, die zudem Fehlanreize setzt und damit das Ziel ambulant vor stationär gefährden kann.
Thomas Eisenreich ist Vice President der Home Instead GmbH & Co. KG sowie zugleich Geschäftsführer des Bundesverbands der Betreuungsdienste (BBD).