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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Planlos, kopflos, international abgehängt

Offener Brief von Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats, und vier weiteren Expertinnen
Offener Brief von Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats, und vier weiteren Expertinnen Foto: Deutscher Pflegerat (Reiner Freese)

Die mangelnde pflegerische Versorgung in Deutschland gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Diese traurige Bilanz ziehen fünf renommierte Pflegeexpertinnen zum heutigen Internationalen Tag der Pflege. Bei politischen Maßnahmen gehe es nicht um höhere Pflegequalität, sondern vor allem um Kontrolle – und die aktuellen Reformvorhaben reichten nicht annähernd, um den Bedarf zu decken. Die Folge: Unterversorgung mit enormen volkswirtschaftlichen Folgekosten.

von Christine Vogler

veröffentlicht am 12.05.2023

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Bertelsmann-Gutachten, Barmer-Report, Statistiken des Bundes (Destatis) und viele mehr. Seit Jahren zeigen alle Daten: Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt exorbitant und gleichzeitig sinkt die Zahl der Pflegefachpersonen. Bis zu 500.000 Pflegende werden fehlen. Heute fehlen schon 100.000. Die pflegefachliche Versorgung implodiert seit Jahrzehnten. Die mangelnde pflegerische Versorgung in allen Sektoren gefährdet bereits jetzt und zunehmend den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Politische Maßnahmen vernachlässigen sträflich die Pflegequalität, erschöpfen sich in Kontrolle und höhlen durch Absenkung von Bildungsstandards die Fachlichkeit aus, statt zielgenau in sie zu investieren. Der wahre Nutzen von pflegefachlich kompetenter Versorgung ist noch nicht erkannt.

Dabei ist der Mehrwert von fachlicher Pflege international belegt. Sie fördert Gesundheit und verringert schwere Krankheitsverläufe, Sterblichkeit und Kosten. Pflegefachberufe sind in fast allen Ländern der Welt eine eigenständige und evidenzbasiert handelnde Profession – nur in Deutschland nicht.

Die Trennung zwischen Kranken- und Pflegeversicherung dient nicht den Menschen. Der fast ausschließliche Blick auf „Pflege“ im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung ist irreführend. Die Pflegeversicherung beinhaltet überwiegend Ersatzleistungen der Angehörigenpflege. Eine bedarfsgerechte, fachlich fundierte und vorbeugende Pflege kann damit nicht erreicht werden. Die Betroffenen und Angehörigen werden allein gelassen. Die ambulante Pflege weist zunehmend weiße Flecken auf. Die Unterversorgung wird zumeist von Frauen kompensiert – mit noch nicht bezifferten volkswirtschaftlichen Folgekosten als Konsequenz.

Abstimmung mit den Füßen

Was es heute neben der pflegerischen Akutversorgung braucht, ist ein zukunftsweisendes Gesundheitswesen mit einer international anschlussfähigen Pflegeprofession, die in den Bereichen der Prävention, Gesundheitskompetenzentwicklung und kommunaler Versorgung Schlüsselfunktionen einnimmt. Die politischen Entscheidungsträger:innen müssen wissen, wie sie Pflegefachberufe in Deutschland im Sinne von hoheitlicher Aufgabe des Staates hinsichtlich der Versorgungs- und Patientensicherheit erhalten und entwickeln müssen. Die aktuellen Reformvorhaben reichen nicht annähernd aus, um den Bedarfen der Zukunft gerecht zu werden und sie schließen nicht den Graben zwischen Pflegefachberufen in Deutschland und denen in Europa und der Welt. Der schlechte Professionalisierungsgrad wirkt sich negativ auf Anwerbe-Kampagnen und den Verbleib von professionellen Berufsangehörigen aus dem internationalen Raum aus.

Seit Jahrzehnten verlassen engagierte Pflegefachpersonen die patient:innennahe Versorgung. Die Abstimmung mit den Füßen ist eine klare Demonstration. Daran wird das politische Versagen der letzten Jahrzehnte deutlich. Da den Pflegeberufen bis jetzt kein Platz in der Selbstverwaltung zugestanden wurde, haben sie keine formale Macht zur Veränderung. Es scheint bisher so, dass Politik und Selbstverwaltung keine fundamentalen, aber dringend erforderliche Reformen angehen möchten, um die Pflegeberufe sinnvoll zu fördern.

Anderswo sind Pflegestudienplätze heiß begehrt

Deutschland leistet es sich bis heute, die Kompetenzen von Pflegefachberufen nicht in die Gesundheitsversorgung zu integrieren – zulasten der Qualität, der Ergebnisse und der Lebensqualität von Patienten:innen und pflegebedürftigen Menschen. Es ist ein in weiten Teilen desaströses Bild der Pflegeberufe, das man in Deutschland pflegt. In anderen Ländern mit professionalisierten Pflegeberufen sind Pflegestudienplätze dagegen heiß begehrt.

Pflegeberufe müssen auch in Deutschland endlich als professioneller und selbständiger Beruf mit eigenen und autonomen Aufgaben- und Kompetenzen wahrgenommen und integriert werden. Dafür müssen fundamentale Reformen im Gesundheitswesen eingeleitet werden. Dazu gehört ein bundesweit aufgestelltes und durchlässiges Bildungskonzept für die Pflegeberufe – von der Pflegeassistenz bis zur Professur. Ohne diese werden keine Veränderungen erzeugt.

Politik verweigert zukunftsfähiges Pflegesystem

Die Verweigerung, die Pflegefachberufe als aktiver Teil der Gesundheitsversorgung in das Gesundheitssystem zu integrieren, bringt Pflegebedürftige und ihre Pflegenden bereits heute in unhaltbare Zustände – Qualität spielt keine Rolle. Eine Lösung liegt seit vielen Jahren auf der Hand. Pflegekammern auf Landes- und Bundesebene als ein Teil der Zukunftssicherung bis 2030.

Andere Berufe, sowie zahllose Träger- und Anbieterverbände definieren heute Pflege und entscheiden über Pflegeberufe. Dies auf Bundes- als auch auf Länderebene und auf Grundlage eines überholten Pflegeverständnisses. Die Entscheidungen zur pflegerischen Versorgung gehören ausschließlich in die Kompetenz und in eine gesetzlich gesicherte Selbstverwaltungsstruktur der Pflegeberufe. Politischer Wille muss diese Strukturen für Pflegeberufe schaffen, um die Versorgungsqualität für die Menschen in Deutschland zu sichern.

Selbständigkeit ist immer noch Fehlanzeige

Pflegebett verschreiben? Pflaster anordnen? Schmerzmittel bereitstellen? Inkontinenzmaterial verschreiben? Pflege in Europa verschreibt das! In Deutschland nicht. In Deutschland darf das nur der Arzt.

Die derzeitige massive pflegerische Unter-, Minder- und Fehlversorgung in Deutschland kann nur behoben werden, wenn pflegediagnostische Erfordernisse erhoben und pflegerische Interventionen und Maßnahmen bedarfsangemessen angeboten werden können. Die pflegefachliche Versorgung wird derzeit nicht leistungsrechtlich abgebildet. Ohne eine leistungsrechtliche Verankerung haben Leistungserbringer und auch Kostenträger kein Interesse an einer bedarfsangemessenen pflegefachlichen Versorgung. Diese Voraussetzungen haben wir in Deutschland bisher nicht. Die Pflegeprofession benötigt staatlich autorisierte Verwaltungsstrukturen, die neben der hoheitlich ermächtigten Leistungspalette im Versorgungssystem die professionelle Entwicklung, Weiterentwicklung und den Umbau im System verantwortlich sicherstellt.

Pflegewissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert 

Deutschland hat eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt. Es gibt keinen Nachweis dafür, dass es auch eines der Besten ist. Obwohl die Gesetze verlangen, dass nach dem neuesten Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse eine Gesundheitsversorgung durchzuführen ist, werden die internationalen Fakten zum Personalschlüssel und zu den Auswirkungen pflegefachlicher Maßnahmen ignoriert. Eine wissenschaftsbasierte Gesundheitsversorgung wird also aktiv verhindert.

Wie glaubwürdig ist es, dass Deutschland mit niedrigeren Abschlüssen in der Pflegeausbildung, weitaus schlechteren Personalschlüsseln und vergleichbaren Erkrankungen angeblich bessere Ergebnisse erzielt? Eine Hypothese für diese schlechte Effizienz im deutschen Gesundheitssystem ist, dass in Deutschland Pflege- und Therapieberufe nicht angemessen in die Gesundheits- und Krankheitsversorgung integriert sind. Viele Bedarfe von Patienten:innen werden so nicht gedeckt.

Ohne Spitzenpflege keine Spitzenmedizin. Ohne gute Pflege keine moderne Medizin.

Abschied vom „Herrgott in Weiß“

Gute Gesundheitsversorgung entsteht nicht durch Medizin allein. Der Arztvorbehalt nach § 28 Abs. 1 SGB V verhindert eine bedarfsangemessene gesundheitliche Versorgung. In anderen Ländern haben Pflegeberufe gesetzlich verankerte, eigene Aufgaben- und Kompetenzbereiche. Die Inhalte des Pflegeberufegesetzes können nicht vollständig umgesetzt werden, wenn der Arztvorbehalt nicht reformiert und keine Fort- und Weiterbildungspflichten für die Pflegeberufe eingeführt werden.

Unser Gesundheitssystem ist nicht auf Gesundheit ausgerichtet, sondern auf den Reparaturbetrieb. Public Health und Primärversorgung bilden nicht die Grundlage. Krankheit bringt Geld. Die Bedarfe der Menschen sind jedoch vielfältiger und werden nicht gedeckt.

Die Zerstückelung der pflegerischen Versorgung durch verschiedene Finanzierungsansätze verhindert für die betroffenen Menschen durchgängige und verständliche Verläufe. Gesundheit kann und muss lebenslang gefördert werden. Professionelle Pflege und Gesundheitsfachberufe können das leisten. Internationale Vorbilder sind hier z.B. Schulgesundheitspflege und Community Health Nurse.

Gesundheit verträgt keine Einzelkämpfer

Die Menschen benötigen neben der medizinischen Diagnostik und Behandlung weitere und anschließende Maßnahmen der Gesundheits- und Krankheitsversorgung. Dafür muss sich Deutschland weg vom ICD-orientiertem Gesundheitssystem hin zu einem bio-psychosozialen Gesundheitssystem – also von der Kodierung von Krankheiten zum Blick auf den ganzen Menschen – entwickeln. Im interprofessionellen Dialog und im Einbezug der Patientinnen und Patienten sind Bedarfe zum Beispiel nach einem stationären Aufenthalt zu erheben und unkompliziert ohne Vorbehalt eigenständig anzubieten.

Digitale Entwicklung berührt alle Sektoren in der Pflege und betrifft mehr als die Dokumentation. Ohne Einbindung der größten Berufsgruppe im Gesundheitswesen in die Entwicklung und Nutzung wird die Digitalisierung in der Gesundheitsbranche in hohem Umfang scheitern. Es würden schätzungsweise 50 Prozent der Gesundheitsdaten fehlen. Beispiel? Gerne. Elektronische Patientenakten, die von Pflegefachpersonen nicht bearbeitet werden können, schließen sämtliche Erkenntnisse über relevante Pflegedaten in der Versorgung aus. Alle weiteren Entwicklungen der Pflegeberufe müssen unmittelbar digital gemeinsam entwickelt und gedacht werden. Dafür müssen die oben genannten Punkte konsequent umgesetzt werden.

Dieser Standpunkt wurde gemeinsam von fünf Pflegeexpertinnen verfasst. Es handelt sich dabei um: Hedwig Francois-Kettner, Vorstandsmitglied bei Gesundheitsstadt Berlin und ehemalige Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, Martina Hasseler, Professorin für Pflege- und Rehabilitationswissenschaft, Bernadette Klapper, Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe, Irene Maier, langjährige Pflegedirektorin und Vizepräsidentin des Deutschen Pflegerats sowie Christine Vogler, Geschäftsführererin des Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe der Vivantes und Charité in Berlin sowie Präsidentin des Deutschen Pflegerats.

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