Als Frau Dinkel das Blut entdeckte, war ihr klar, dass etwas nicht stimmte. Sie war Anfang 60 und die Menopause lag hinter ihr. Trotzdem ging sie nicht gleich zum Frauenarzt. Sie hatte beruflich viel zu tun und war gerade mit einer aufwendigen Zahnsanierung beschäftigt. Eine Kollegin, der sie davon erzählte, drängte sie, zum Arzt zu gehen. Doch noch eine „Baustelle“ neben den Zähnen war ihr zu viel Stress und sie schob es auf, bis die Zahnsanierung abgeschlossen war. Ein gutes Jahr später stand die Kollegin an ihrem Grab. Frau Dinkels Zähne waren perfekt saniert. Aber der Krebs war schon metastasiert, als sie sich endlich darum kümmerte.
Aus dieser wahren Geschichte können wir etwas über Prioritäten lernen. Es gibt viele Themen und Probleme im Leben, manche sind akut und laut, andere chronisch und leise. Und manche sind von einer grundlegenden Art und bedingen alles andere. Wie die Gesundheit für den Einzelnen. Und wie das Klima für die Menschheit. Viele haben verstanden, dass der Klimawandel ein Problem ist. Aber nur wenige haben verstanden, dass er kein Problem wie andere ist. Dass ein stabiles Klima unsere LebensGRUNDLAGE ist, ohne die alles andere hinfällig wird. Dass unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft darauf basieren. Dass wir uns darum nicht irgendwann später kümmern können, wenn wir die anderen Probleme gelöst haben, weil es dann zu spät sein wird.
Beim Krebs weiß man zwar nicht genau, wann er metastasiert, aber man weiß, dass das Risiko deutlich steigt, je größer der Tumor wird. Jedes Aufschieben der Operation erhöht das Risiko. Ähnlich ist es beim Klima. Wir wissen nicht, wann genau was passiert, aber wir wissen, dass das Risiko für irreversible Schäden jenseits von 1,5°C Erwärmung massiv ansteigt und dass es gefährliche Kipppunkte im Erdsystem gibt. Daher ist ja das zentrale Ziel des Klima-Abkommens von Paris, die Erderwärmung auf deutlich unter 2°C zu begrenzen, möglichst auf 1,5°C. Um das noch zu schaffen, müssten wir sehr rasch umsteuern. Weiteres Aufschieben ist unverzeihlich, genau wie beim Krebs. Es geht um die Gesundheit, um das Leben unserer Kinder und Enkel und aller künftigen Generationen.
Klimakrise muss Priorität erlangen
In einem Notfall, der als solcher erkannt wird, verschieben sich die Prioritäten komplett. Bei einer Krebsdiagnose tritt vernünftigerweise alles andere in den Hintergrund und wird neu bewertet; Urlaub, Beruf, Zahnsanierung. Vieles was vorher wichtig war, wird verschoben oder abgesagt. In der Coronakrise haben wir erfahren, wie eine Gesellschaft im Notfall beherzt handeln kann. Bisherige Regeln wurden außer Kraft gesetzt, neue entstanden. Man scheut keine Kosten. Bei der Klimakrise hingegen scheint das Verständnis zu fehlen, dass ein Notfall vorliegt. Sie hat bisher keine Priorität. Es wird zwar viel geredet, aber nur halbherzig gehandelt. Man fürchtet Nebenwirkungen. Und bewirkt deswegen nichts. Wenn man bei einer Strahlentherapie eines Hirntumors nur ein Zehntel der nötigen Dosis akzeptiert, verhindert das zwar den Haarausfall, aber man wird den Tumor auch nicht los.
Und dabei wäre die „Therapie“ der Klimakrise bei Weitem nicht so unangenehm wie die einer Krebserkrankung oder der Corona-Pandemie. Sie gleicht eher einem Entzug, wie von Nikotin oder Alkohol, zunächst ist es hart und ungewohnt, aber danach geht es einem besser. In einer Welt ohne Kohle- und Erdölverbrennung, mit weniger Autos, mit fahrrad- und fußgängerfreundlichen Städten, könnten wir wieder saubere Luft atmen, würden uns mehr bewegen, wären gesünder. Die Konjunkturpakete zur Bewältigung der Coronakrise bieten die Gelegenheit zum nachhaltigen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, zur Neuorientierung. Wir sollten sie nicht ungenutzt lassen. Der Schutz unserer Lebensgrundlagen sollte oberste Priorität haben. Das heißt natürlich nicht, dass alles andere unwichtig wird, aber wenn wir die Klimakrise vernachlässigen, wird alles andere hinfällig. Und wir stehen irgendwann vor den Trümmern unserer Zivilisation und fragen uns, warum wir nicht entschlossen gehandelt haben, als noch Zeit war.
Sabine Gabrysch, Professorin für Klimawandel und Gesundheit, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und Institut für Public Health der Berliner Charité.