Seit es Selektivverträge gibt, hat sich die Vertragsform immer wieder als Impulsgeber für das Gesundheitswesen erwiesen. Ihr volles Potenzial konnten Selektivverträge allerdings nicht entfalten. Kein Wunder, denn in der Praxis verursacht jeder neue Vertrag viel Extra-Aufwand. Das beginnt bei den Einschlusskriterien sowie Einschreibeformularen und reicht bis hin zu individuellen Dokumentationsbögen. Bei Tausenden einzigartigen Selektivverträgen können einzelne Leistungserbringer meist nur eine geringe Anzahl solcher Verträge bedienen. Das Grundproblem: Standards sind Fehlanzeige und viele Dokumente werden noch in Papierform auf dem Postweg ausgetauscht.
Bei der gevko beschäftigen wir uns schon viele Jahre mit Selektivverträgen – und mit ihren Ineffizienzen, die schon längst der Vergangenheit angehören könnten. Insbesondere der administrative Aufwand, den Selektivverträge in der Praxis verursachen ist ein großes Hindernis. Solange wir dieses nicht ausräumen, kann die Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit, die bei Selektivverträgen noch meterweit klafft, wohl nie ausgeräumt werden. An digitalen Lösungen führt hier beim besten Willen kein Weg vorbei – nicht aus Selbstzweck, sondern um unnötige Papierberge zu vermeiden und effiziente Standards umzusetzen, die allen Beteiligten Akteuren Arbeit abnehmen.
Potenziale der TI nutzen
So frustrierend der Status quo sein mag, es gibt auch Hoffnung. Die Voraussetzungen sind derzeit besser denn je, um Selektivverträge endlich sinnvoll zu digitalisieren. Grund dafür ist die Telematikinfrastruktur (TI), die eine ganze Reihe an neuen Kommunikationswegen eröffnet. Denn auch das Abwickeln der Selektivverträge kann erheblich einfacher werden, wenn Praxen und Kostenträger schnell und sicher miteinander in der TI kommunizieren.
Wenn nach und nach auch Physiotherapeuten, Hebammen und Pflegeeinrichtungen an die TI angeschlossen werden, könnten Selektivverträge zudem intersektoral greifen. Damit entstehen ganz neue Möglichkeiten für das Format Selektivvertrag.
Der Weg zum Selektivvertrag 2.0
In Zukunft könnten wir eine neue Art von Selektivverträgen erleben, die sich in drei wichtigen Punkten von den derzeitigen Verträgen abhebt. Erstens werden diese neuen Selektivverträge jenseits der konkreten Gesundheitsleistungen komplett digital ablaufen können. Falls ein Vertrag telemedizinische Leistungen umfasst, können die Prozesse sogar nahezu vollständig digitalisiert werden. Zweitens werden Selektivverträge zunehmend Sektorengrenzen ignorieren und so die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Leistungserbringern fördern. Drittens können sich Selektivverträge vom teils unbeliebten Werkzeug endlich zu einem wirksamen Instrument weiterentwickeln, an dem alle Beteiligten gerne partizipieren.
Dass wir diese Chancen tatsächlich ergreifen und die Vision eines Selektivvertrags 2.0 in die Realität umsetzen, ist keine Selbstverständlichkeit. Ganz im Gegenteil, denn es gibt eine große ungelöste Herausforderung. Reibungslöse intersektorale Abläufe setzen voraus, dass Leistungserbringer und Kostenträger einheitliche Kommunikationsstandards nutzen. Genau diese fehlen aber bislang. Wenn es uns gelingt, hier eine Debatte anzustoßen und gemeinsame Standards zu finden, dann rückt das digitale Update für Selektivverträge in greifbare Nähe. Die Voraussetzungen dafür sind besser denn je.
Professor Guido Noelle ist promovierter Mediziner, Gesundheitsökonom und Medizin-Informatiker. Er hat sich unter anderem auf Fragen des Arzneimittelmanagements und der Vertragsgestaltung für Selektiv- und IV-Verträge spezialisiert. Als Honorarprofessor lehrt er an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg in Sankt Augustin Medizinische Informatik und E-Health. Seit 2013 ist Noelle Geschäftsführer der gevko GmbH.