Keine Hoffnung machen die Ärzte den Eltern der siebenjährigen L. Ihr Hirntumor ist inoperabel und wächst schnell. Die Eltern aber geben nicht auf und Millionen nehmen Anteil. Ein Sportverein engagiert sich, ein Benefiz-Festival wird veranstaltet, regionale Medien und sogar ein Elternmagazin berichten. Die Spendengelder fließen.
L. wird zunächst in der Schweiz homöopathisch behandelt, dann zu Hause auf eine Reise in die USA vorbereitet. Ein Labor untersucht ihr Blut wieder und wieder, um den richtigen „Naturstoff“ zu finden, der L. heilen soll. Nach zehn atemlosen Wochen stirbt die Siebenjährige.
S. erkrankt an Transverse Myelitis, F. an Long Covid. Beide suchen ihr Heil in einer Stammzellentherapie. Beide sammeln fünfstellige Summen für Therapie- und Reisekosten.
Die achtjährige H. ist eine non-verbale Autistin. Eine Regionalzeitung ruft zu Spenden für eine Delphintherapie auf. Annähernd 30.000 Euro gehen auf dem Spendenkonto eines Vereins ein, der eigens gegründet wurde, um Kindern therapeutische Reisen zu den Meeressäugern zu ermöglichen.
Vier Schicksale, viermal greifen die Betroffenen selbst oder ihre Familien nach jedem Strohhalm. Viermal fängt Solidarität und Mitgefühl auf, was die Kassen nicht finanzieren. Viermal sind Medien und Soziale Medien der Weg, das individuelle Schicksal zu teilen und die Öffentlichkeit um Hilfe zu bitten. Viermal wird Hoffnung das Einzige bleiben, dass die Patienten und ihre Familien erhalten.
Realitätscheck
Um Krebs herum hat sich eine ganze Pseudomedizinbranche entwickelt, die nicht mehr verkauft als das: vergebliche Hoffnung. Die Schweizer Klinik, in der L. homöopathisch behandelt wurde, machte zum Beispiel schon in der Vergangenheit negative Schlagzeilen und eine Reihe ehemaliger Patienten äußert online, dass sie sich finanziell ausgenommen fühlen.
Stark im Kommen im Geschäft mit der Hoffnung sind Stammzellenkliniken. Durch sie entwickelte sich ein Phänomen, das der auf Medizinrecht spezialisierte kanadische Professor Timothy Caulfield „Stammzellentourismus“ nennt. Die Kliniken siedeln sich oft in den USA an, in Mexiko, Thailand oder China. Die Patienten unternehmen nicht selten eine halbe Weltreise, die neben den exorbitanten Behandlungskosten bezahlt werden will.
Dabei haben Stammzellentherapien, außer bei einer sehr überschaubaren Anzahl Krankheiten wie zum Beispiel Leukämie, keinen nachgewiesenen positiven Effekt. Sie umweht aber ein geheimnisvoller Mythos, der ihnen unter anderem die Fähigkeiten nachsagt, sogar durchtrennte Nerven wieder heilen und Gelähmte wieder gehen lassen zu können.
Wie genau diese Magie wirken soll, hinterfragen Patienten am Ende ihrer Hoffnung nur selten. Ebenso wenig wie sie sich die Risiken bewusst machen — oder diese von den Kliniken offen kommuniziert werden — wie ein erhöhtes Krebsrisiko.
Fünfstellige Beträge für Wasserwellness?
Auch beim „Schwimmen mit Flipper“ gibt es keine guten Belege für die versprochene Wirkung. Die „magischen“ Effekte, die dem Schwimmen in Gesellschaft von Delphinen nachgesagt wird, treten auch dann auf, wenn das Tier durch eine Gummiattrappe ersetzt wird. Etwas, von dem vor allem Therapie-Delphine profitieren würden, die ihr Leben oft in so gar nicht ganzheitlicher Qualhaltung verbringen.
Eine Forschergruppe wertete 2018 1636 Crowdfundings aus, in denen Geld für eine von fünf fragwürdigen und potenziell gefährlichen medizinischen Therapien gesammelt wurde. Darunter homöopathische Behandlungen bei Krebs, Stammzellentherapien bei Verletzungen des Hirns oder des Rückenmarks, Sauerstoffüberdrucktherapien gegen Hirnschäden und Langzeit-Antibiotikabehandlungen gegen Lyme-Borreliose. Diese 1636 Crowdfundings brachten zusammengenommen eine Spendensumme von 6,7 Millionen Dollar ein.
Die Studienautoren schlossen daraus, dass Crowdfundings für medizinische Behandlungen einen signifikanten Beitrag dazu leisten, Angebote zu etablieren, die Patienten zweifelhaften und möglicherweise auch unsicheren Praktiken aussetzen.
Pseudomedizin auf Seite 1
Auch wenn die Zahl Spendensammlungen durch die Sozialen Medien und Crowdsourcing-Plattformen in den letzten Jahren enorm angestiegen ist, neu ist das Phänomen nicht. Immer wieder berichten Medien voreilig über halbgare Therapieansätze, als seien diese das nächste große Ding oder begleiten Eltern und ihre behinderten oder erkrankten Kinder medial auf jahrelangen Therapieodysseen.
Eine besondere Rolle spielen gerade Lokal- und Regionalmedien. Sie berichten gerne, aber selten kritisch über Spendensammlungen für Therapien. Denn es sind dankbare, leicht geschriebene Geschichten mit einem klaren Gegner — der Krankheit oder der Behinderung — und einem klaren Opfer aus der Nachbarschaft, um das herum sich die Gemeinschaft zusammenfinden und etwas tun kann. Einfach, durch eine kleine Summe, nicht mühsam und langwierig, wie etwa gemeinsam für den barrierefreien Umbau der örtlichen Schule zu streiten. Dazu kommt eine kräftige Dosis Hoffnung und bei exotischen Behandlungen auch etwas Magie.
Gefragt wird allerhöchstens danach, ob das gesammelte Geld auch tatsächlich für die Behandlung eingesetzt wird und nicht, ob es sich bei der Behandlung um ein nachweislich wirksames Verfahren oder eine seriöse Einrichtung handelt, die nach modernen medizinischen und ethischen Standards arbeitet. Keine andere Ziffer des Pressekodex dürfte so häufig ignoriert werden, wie Ziffer 14.
Ohne Regulierung geht es nicht
Den Patienten ist es nicht anzukreiden, dass sie nach jedem Strohhalm greifen, jede Möglichkeit ausloten, wenn ein Unfall oder eine Diagnose ihr Leben von einem auf den anderen Tag völlig verändert. Niemand kann von ihnen erwarten, über Nacht zu Experten zu werden, die Medizin gesichert von Pseudomedizin unterscheiden können. Es ist die fehlende Regulierung des sich „alternativmedizinisch“ nennenden Sektors, das fehlende Bewusstsein bei den Medien über ihre Rolle als Multiplikatoren zweifelhafter Verfahren und die fehlende Aufsicht durch die Crowdfundingplattformen selbst. Sie machen so manches medizinisch fragwürdige Geschäftsmodell, das nie auf eine Finanzierung durch die Kassen hoffen dürfte, erst lukrativ.
Die lange in der Politik gehegte Einstellung, dass alternative medizinische Verfahren, wenn sie schon nichts nutzen, dann wenigstens nichts schaden, wurde längst von der Realität überholt. Solange der Markt der pseudomedizinischen Angebote nicht endlich reguliert wird, wird das Problem nur größer werden.
Mela Eckenfels ist Wissenschafts- und Kommunikationsjournalistin und betreibt den Blog „Feder&Herd“.