Die Debatte um die Impfstoffverteilung in der Corona-Pandemie zeigt uns sehr deutlich, wie es um die Machtverhältnisse auf diesem Planeten bestellt ist: Während sich die westlichen Staaten Impfstoffe in großen Mengen sichern und höchstens darum streiten, wer zuerst beliefert wird, geraten Länder in Afrika, Südamerika und Asien immer stärker ins Hintertreffen – oder sind auf Spenden anderer Länder angewiesen. In der Notlage wird schnell klar, wie es um die Chancengleichheit in der Medizin steht.
Dabei geht es nicht nur um Impfstoffe, sondern um Medizin im Allgemeinen. Gerade in Deutschland vergessen wir häufig: Eine adäquate medizinische Versorgung ist in weiten Teilen der Welt nicht etwa Standard, sondern – wenn überhaupt – absoluter Luxus. Von einer gerechten Verteilung der medizinischen Möglichkeiten und einem Fokus auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen sind wir global betrachtet zwar noch weit entfernt, können dank MedTech, Medizin-Technologie, aber schon heute dafür sorgen, dass wir in die richtige Richtung steuern und Medizin gerechter machen – sowohl was die geografisch als auch die sozio-kulturell bedingte Zugänglichkeit angeht.
MedTech verbessert den Zugang zur Gesundheitsversorgung
Den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, heißt, neben Hochrechnungen oder Statistiken die Gesundheitsdaten von Individualpersonen einzubeziehen. Technologie, die direkt von Konsument:innen genutzt wird, ermöglicht schon heute eine deutlich breitere Datenerfassung. Zum Beispiel können Anwendungen gesundheitliche Veränderungen einzelner Personen in Echtzeit überwachen und die Früherkennung verbessern. Daran anschließend kann Telemedizin die Gesundheitsversorgung für Menschen mit eingeschränkter Mobilität entscheidend voranbringen – und auf der anderen Seite den Druck auf die Gesundheitssysteme dicht besiedelter Gebiete verringern.
Um das zu erreichen, müssen Hersteller:innen solcher Lösungen stets die Zugänglichkeit im Blick behalten. Das bedeutet, zu wissen, dass Anwendungen von Menschen mit sehr unterschiedlichem technischen Hintergrund, aus verschiedenen Altersgruppen und Kulturen und mit unterschiedlichen Fähigkeiten oder Behinderungen genutzt werden. Was selbstverständlich klingt, ist leider noch viel zu selten der Fall.
FemTech schafft Geschlechtergerechtigkeit in der Medizin
Daneben besteht ein echter Bedarf, frauenspezifische Themen zu adressieren, die bis heute von der Medizin ignoriert wurden. Deutlich wird dies am Beispiel Endometriose. Die Unterleibserkrankung betrifft rund zehn Prozent aller Frauen, und doch weiß die Medizin erstaunlich wenig über dieses Phänomen. Das liegt vor allem daran, dass es weitläufig noch immer als normal angesehen wird, wenn Frauen während der Periode leiden. Auch bei kardiovaskulären Erkrankungen, der Todesursache Nummer eins bei Frauen, gibt es spezifisch weibliche Risikofaktoren, die bislang noch wenig erforscht und deshalb kaum bekannt sind.
Oft passiert in diesem Feld überhaupt nur etwas, weil spezialisierte Communitys und kleine Unternehmen sich den Themen annehmen. Während die Bereitschaft in der Forschung seit jeher stockt, ist der Markt wissbegierig, die Auswirkungen hormoneller Schwankungen auf jeden Aspekt des Lebens zu verstehen. Da Frauen in klinischen Studien unterrepräsentiert sind, fehlt es an Daten und Korrelationen zwischen der Regel, Aktivitäten, Stimmungen, Schlaf und anderen Faktoren, die erst noch erforscht werden müssen. Daraus ergeben sich Chancen, die vor allem von innovationsgetriebenen Start-ups aufgegriffen und in sogenannten FemTech-Lösungen adressiert werden.
Technologie kann soziokulturelle Unterschiede bewältigen
Untersuchungen haben ergeben, dass es meist mehr das kulturelle als das biologische Geschlecht ist, das die Gesundheit von Frauen beeinflusst. Gesellschaftliche Rollenbilder erzeugen eine Fürsorgepflicht, die von Frauen im sozialen Miteinander noch immer erwartet wird. Doch was passiert, wenn Frauen nicht Mutter sein wollen oder sich nicht um ein Kind kümmern können? Frauen bleiben in diesen traditionellen Rollen oft bewusst oder unbewusst gefangen – und das macht sie verwundbar. Die mentale Belastung wirkt sich auf die psychische Gesundheit aus, weshalb Frauen in jedem Alter fast doppelt so häufig an Depressionen leiden wie Männer.
Indem wir die Gesundheit von Frauen stärker in den Fokus der Medizin rücken, schaffen wir die Voraussetzung für eine umfassendere Versorgung, die diese soziokulturellen Herausforderungen berücksichtigt. Dazu braucht es einen insgesamt inklusiveren Ansatz, der die tatsächlichen Bedürfnisse von Individualpersonen berücksichtigt. Einen solchen Ansatz verfolgen moderne Anwendungen, die die Bedürfnisse des oder der Einzelnen in den Mittelpunkt stellen und Faktoren einbeziehen, die bislang nicht denkbar waren, zum Beispiel die individuelle Familienhistorie, Anfälligkeit für Krankheiten, aber auch sozio-ökologische Faktoren wie die individuelle Lebensgeschichte oder Diäten, genauso wie psychologische und spirituelle Dimensionen.
Technologie ermöglicht individuelle Gesundheitslösungen
Zusammenfassend geht es nicht nur darum, neue Zugänge zu schaffen und bislang unberücksichtigte Phänomene zu meistern, sondern darum, die Gesundheitsversorgung insgesamt stärker auf den menschlichen Körper auszurichten. Die größte Herausforderung für das Gesundheitswesen besteht darin, Lösungen zu finden, die sich mit Milliarden von Individualitäten befassen können. Das klingt herausfordernd, ist durch den Einsatz von innovativer Medizin-Technologie aber in den Bereich des Möglichen gerückt.
Romain Dahan ist Product Manager und Tech-Experte bei Withings. Das französische MedTech-Unternehmen entwickelt intelligente Gesundheitsprodukte und -Dienstleistungen wie etwa Hybrid Smartwatches, welche die EKG und Sauerstoffsättigung von Covid-19-Patient:innen in häuslicher Quarantäne misst. Dabei soll ermittelt werden, ob überflüssige Krankenhausaufenthalte vermieden werden können.