Nach jahrelangem Vorlauf und mehreren Terminverschiebungen ist das elektronische Rezept (E-Rezept) nun flächendeckend gestartet und bietet die große Chance, Arzneimittelversorgung umfassender bedarfsgerecht aufzustellen. Was bedeutet das für die wichtige Versorgungsstruktur der öffentlichen Apotheken? Seit langem spekulieren internationale Online-Versand-Apotheken darauf, mit dem digitalen Rezept endlich signifikant am Umsatz mit verschreibungspflichtigen Medikamenten teilzuhaben – immerhin 80 Prozent des gesamten Arzneimittelmarktes.
Aber eine Dominanz der Versender kann sich niemand wünschen: Die stationären Apotheken sind ein wichtiges Rückgrat der örtlichen Gesundheitsversorgung, sie bieten ein Leistungsspektrum, das weit über das der Versandapotheken hinausreicht. Durch die Kombination aus Service, Nähe und Vertrauen tragen lokale Apotheken zur niedrigschwellig erreichbaren Gesundheitsversorgung in der Fläche bei. Keine andere Struktur bietet bessere Voraussetzungen für persönliche und kompetente Beratungsangebote zur Sicherstellung der Arzneimitteltherapiesicherheit. Das hat auch die Gesetzgebung erkannt.
Neu ist die Möglichkeit der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) als Übertragungsmedium. Für die klassischen Vor-Ort-Apotheken erstmal eine positive Entwicklung, so stärkt dieser Prozess die Verbindung zwischen Patient und Apotheke und bildet einen realitätsnahen, alltäglichen Zugang zur Apotheke für ältere und oft auch kränkere Kundinnen und Kunden, die eine umfassende Arzneimittelberatung durch ihre Apothekerin oder ihren Apotheker brauchen. Der rein digitale Übertragungsweg des E-Rezeptes mittels der Gematik-App wird aufgrund des noch recht aufwändigen Registrierungsprozesses von Patienten bisher nur wenig genutzt.
Digitale Mehrwerte anbieten, lokale Services stärken
Um die wichtigsten Informationen der Verordnung für den Patienten sichtbar zu machen, wird in den meisten Fällen ein zusätzlicher Papierbegleitausdruck ausgestellt. Experten gehen davon aus, dass dies in den kommenden Monaten der dominierende Weg für die Ausstellung von E-Rezepten sein wird. Apotheken können dieses Dokument nutzen, um ihren Patienten wertvolle Mehrwerte anzubieten. Mit geeigneten Apps kann der Code auf dem Ausdruck gescannt und vorab an die ausgewählte Apotheke übermittelt werden. So können in Zeiten von Arzneimittellieferengpässen etwa Verfügbarkeiten oder Botendienstoptionen geklärt werden und unnötiger Aufwand durch doppelte Wege erübrigt sich.
Apotheken, die jetzt ihren Kundinnen und Kunden solche Services proaktiv anbieten, handeln zukunftssichernd. Denn die Versandhändler laufen bereits Sturm gegen die Übertragung des E-Rezeptes über die eGK. DocMorris und Shop Apotheke haben Beschwerde bei der EU-Kommission eingereicht. Sie sehen die Lösung als Benachteiligung für sich, weil Kunden kein Rezept auf rein digitalem Weg einreichen können. Ob die Beschwerde Erfolg hat, ist völlig unklar. Aber sie zeigt: Der Druck im Markt wächst.
Der Versandhandel wird kaum Ruhe geben, solange er keinen gleichwertigen Zugang zum E-Rezept hat wie die stationären Apotheken. Doc Morris verkündete kürzlich in der Presse, eine mögliche Card-to-Card-Lösung bis Ende 2023 einführen zu wollen, die eine digitale Alternative zur Karten-Steckmethode bietet. Bei jedem Einlösen eines E-Rezepts müsste der Kunde oder die Kundin die Gesundheitskarte ans Handy halten, sodass via NFC eine Verbindung aufgebaut werden kann. Über die App der Online-Apotheke könne die eGK eingelesen und das E-Rezept übermittelt werden.
Zahlreiche Apotheken-Schließungen
Auch von anderer Seite wächst der Druck: So teilte der Geschäftsführer der Drogeriekette dm kürzlich mit, neben dekorativer Kosmetik und Hautpflege vielleicht bald auch freiverkäufliche Arzneimittel ins Sortiment nehmen zu wollen. Im Ausland versuchte der Konzern schon mehrfach, die Apothekenpflicht aussetzen zu lassen. Das Apothekensterben öffnet in seinen Augen eine lukrative Lücke. „Um die Zukunft unseres Unternehmens ist mir da nicht bange“, sagte der Vorsitzende der dm-Geschäftsführung, Christoph Werner, gegenüber dem Handelsblatt. Auch hier ist völlig unklar, wie weit die Pläne gediehen sind und ob sie tatsächlich realisiert werden. Aber die Apotheken sollten sich auf die doppelte Bedrohung vorbereiten.
Wie sehr der Markt unter Druck ist, zeigen Zahlen der Landesapothekerkammern aus Juli 2023. So mussten im ersten Halbjahr dieses Jahres bereits 222 Apotheken schließen. Das macht einen prozentualen Satz von 1,3 Prozent. Dieser Wert wurde vor fünf Jahren noch innerhalb von zwölf Monaten erreicht. Wie hoch der Frust mit der ökonomischen Lage ist, zeigte nicht zuletzt auch der Apothekerstreik am 14. Juni.
Es braucht sicher eine vielschichtige Strategie, um diese Entwicklung zu stoppen. Aber ein wichtiger Teil davon ist, dem Online-Versand nicht das Angebot digitaler Mehrwerte zu überlassen. Nicht zuletzt hat die Corona-Pandemie auch für Konsumenten den Schwenk auf den Onlinebereich beschleunigt. Eine Umfrage des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv) belegt, dass 40 Prozent der befragten Verbraucher seitdem mehr digitale Angebote im Gesundheitsbereich nutzen. Besonders jüngere Altersgruppen priorisieren den digitalen Zugang zur medizinischen Versorgung.
Erreichbarkeit per Chat
Hier liegt ein Potenzial, das Apotheken für sich nutzen können. Erste Schritte könnten die weitere Professionalisierung des pharmazeutischen Botendienstes oder der Ausbau der digitalen Erreichbarkeit via Chat sein. Immer mehr Apotheken bieten auch bereits 24/7 zugängliche Abholterminals für Medikamente an. Das Wichtigste aber bleibt: Die Apotheke muss einen digitalen Kommunikationszugang zu ihren Kund:innen aufbauen, um die Beziehung auch langfristig zu stärken.
Dazu gehört auch das rein digitale E-Rezept. Haben dann Shop Apotheke und DocMorris mit ihrer Beschwerde bei der EU-Kommission Erfolg, sind sie bestens vorbereitet. Scheitert die Beschwerde, haben sie einen wertvollen digitalen Kanal zum Kunden etabliert, um auch online ihre Beratungskompetenz sowie ihre wichtige Rolle für die Versorgung von Patienten auszuspielen.
Der Apotheker Dr. Sven Simons ist Co-CEO von gesund.de.