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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Viele Angebote – wenig Systematik

Marcel Weigand, Berater und Dozent, Leiter Kooperationen und digitale Transformation bei der UPD
Marcel Weigand, Berater und Dozent, Leiter Kooperationen und digitale Transformation bei der UPD Foto: Foto: privat

In sieben Schritten Transparenz und Systematik bei Informations- und Beratungsangeboten im deutschen Gesundheitswesen schaffen – das ist der ambitionierte Plan von Marcel Weigand, der zum Thema digitale Kooperationen bei der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland arbeitet. Dazu brauche es eine gründliche Bedarfsermittlung, den Aufbau von geeigneten Strukturen und vor allem eine patientenzentrierte Aufbereitung.

von Marcel Weigand

veröffentlicht am 16.11.2023

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Wo informiere ich mich über meine Erkrankung oder über Behandlungsoptionen? Was muss ich bei der Beantragung eines Pflegegrads wissen? Welchen Internetseiten mit Gesundheitsinformationen kann ich vertrauen? Wie lege ich Widerspruch ein, wenn meine Krankenkasse eine Leistung abgelehnt hat? Woran erkenne ich eine gute Klinik oder (Zahn-) Arztpraxis?

Das sind nur einige der vielen Fragen, die Bürger in Deutschland tagtäglich umtreiben. Aber wie gut gelingt es Patienten in Deutschland, an die richtige Information und/oder Beratung zu kommen? Bevölkerungsbefragungen zeigen, dass bei rund 59 Prozent der Menschen in Deutschland die Gesundheitskompetenz gering ausgeprägt ist. Gemeint ist die Fähigkeit, Informationen zu finden, zu verstehen und anzuwenden. Die digitale Gesundheitskompetenz ist sogar bei drei von vier Bürgern auf einem geringen Niveau.

Natürlich hängt die digitale Gesundheitskompetenz nicht nur von Informations- und Beratungseinrichtungen ab. Sie ist auch vom persönlichen Bildungshintergrund und dem Kontakt mit mehr oder weniger gesundheitskompetenten Health Professionals geprägt. Brauchen wir mehr Informations- und Unterstützungsmöglichkeiten, damit Menschen das System adäquater nutzen können?

Fehlender Überblick

Nun: Wir wissen es schlicht nicht. Es gibt bereits zahlreiche Anlaufstellungen und Informationsquellen für Patienten. Doch niemand kann sagen, ob wir zu viel, zu wenig oder nicht die richtigen Angebote in der benötigten Menge zur Gesundheitsinformation und -beratung für die Bevölkerung bereitstellen. Es gibt keine Gesamtübersicht über die existierenden Informations- und Beratungsangebote im deutschen Gesundheits- und Sozialwesen. Verschiedene Institutionen haben immer wieder versucht, zumindest Teilübersichten zu erstellen. Der Aufwand dafür ist immens. Aber sollten man es deswegen sein lassen und dem Wildwuchs stets weitere Pflänzchen hinzufügen? Aktuell leidet die Informations- und Beratungslandschaft bereits sowohl unter unnötigen Mehrfachstrukturen als auch unter der konfusen Verteilung verschiedener Themenbereiche, die sich an der Struktur von Sozialgesetzbüchern statt an der Lebenswirklichkeit der Menschen orientiert.

Was wir dabei in den letzten Jahrzehnten erleben, kann als Parallele zur gesundheitlichen Versorgung gesehen werden. Wir kippen immer noch mehr Leistungen und Geld in ein System, das nach objektiven Gesichtspunkten wie etwa der Entwicklung der durchschnittlichen Lebenserwartung vergleichsweise schlecht abschneidet. Die 474 Milliarden Gesamtausgaben im Gesundheitswesen werden fast ausschließlich für die Behandlung von Erkrankungen ausgegeben, obwohl sich unsere Gesundheit damit nur um die elf Prozent beeinflussen lässt. Prävention, ganz zu schweigen von Verhältnisprävention und Gesundheitsförderung, werden dagegen vernachlässigt.

Dennoch werden nicht nur im Bereich der klassischen Gesundheitsdienstleistungen, sondern auch im Bereich Information und Beratung immer mehr und zum Teil parallele Strukturen aufgebaut. Neben Beratung und Informationen von Krankenkassen, Verbraucherzentralen, Selbsthilfeeinrichtungen, gesund.bund.de, gesundheitsinformation.de und vielen privaten Anbietern sind in den letzten Jahren Einrichtungen wie die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB), Pflegestützpunkte oder die Neuaufstellung der Unabhängigen Patientenberatung hinzugekommen. Nun sollen 1.000 Gesundheitskioske und ein neues Public Health Institut (BIPAM), das ebenfalls für gesundheitliche Aufklärung sorgen soll, hinzukommen

Wie fügen sich diese Einrichtungen in die bestehende Informations- und Beratungslandschaft ein? Der undurchsichtige Dschungel im deutschen Gesundheitssystem sowie die beklagte Über-, Unter- und Fehlversorgung, die der Sachverständigenrat fürs Gesundheitswesen bei Gesundheitsleistungen seit Jahrzehnten konstatiert, spiegelt sich im Bereich der Gesundheitsinformations- und Beratungsangebote ebenso wider. Mit ernsten Konsequenzen: Patienten erhalten nicht die benötigten Informationen oder Beratungen. Die Folgen: Notwendige Behandlungen werden unterlassen, Patientenrechte nicht wahrgenommen. Umso mehr verwundert es, dass wir trotzdem ständig neue Beratungs- und Informationseinrichtungen schaffen, obwohl folgende Fragen nicht geklärt und Schritte nicht getan wurden:

  1. Status quo: Wie ist der Gesamtbedarf an Informations- und Unterstützungsleistungen in der Bevölkerung im Gesundheitswesen? Wie sähe ein optimales Zielbild aus?
  2. Bedarfsermittlung: Auf welche Art und in welchem Umfang sollen Angebote für die unterschiedlichen Bedarfe geschaffen werden? Am Ende sollte eine Strategie für Gesundheitsinformation- und Beratungsangebote stehen.
  3. Benötigte Strukturen: Welchen Einrichtungen werden benötigt, um die Bedarfe abzudecken? Welche Qualitätsanforderungen sind bei Beratung und Information zu erfüllen?
  4. Soll-Ist-Abgleich: Abgleich zwischen dem Bedarf und den bestehenden Beratungsangeboten.
  5. Dazu müssen die Schnittmengen und Abgrenzungen zwischen den Angeboten definiert werden.
  6. Strukturen aufbauen: Angebote für Gesundheitsinformation und Beratung aufbauen oder anpassen bzw. umwandeln
  7. Transparent und zugänglich machen: Alle Informations- und Beratungsangebote in einer intelligenten Suche transparent machen und patientenzentriert aufbereiten.
  8. Auf dem Nationalen Gesundheitsportal gesund.bund.de und ggf. auf Webseiten von gesetzlichen Krankenkassen, Behörden etc. darstellen und bekannt machen

Das entspräche einem systematischen Vorgehen, an dessen Ende die Bürger eine bessere Chance hätten, an die benötigte Information und/ oder Beratung zu kommen.

Zu Schritt 1. hat die Unabhängigen Patientenberatung 2022 eine repräsentative Befragung durchführen lassen, auf der man aufsetzen könnte. Den Ergebnissen zufolge hatte jeder zweite Bürger schon mal Unterstützungsbedarf bei gesundheitlichen und gesundheitsrechtlichen Fragen.

Zur Durchführung der Punkte 2. und 3. könnte man auf den erfolgreichen Prozess der Entwicklung der Digitalisierungsstrategie für Gesundheit und Pflege zurückgreifen. Dabei ist es gelungen, sehr viele interessierte Gruppen einzubeziehen und ein konstruktives Ergebnis zu erzielen. Die Schritte 4 und 5 sollten in jedem Fall unter Einbezug von Experten zu Gesundheitskommunikation und -wissenschaften erfolgen.

Bei den Schritten 6 und 7 wäre zum einen zu beachten, dass sich des Angebotssuche an der Lebenswirklichkeit und den Bedarfslagen und nicht an Sozialgesetzbüchern orientiert. Vorgaben, die Beratungs- und Informationsanbieter an die Struktur von Gesetzbüchern binden, fördern fraktionierte und unübersichtliche Gesundheitsstrukturen. Zum anderen müssen die Informationen adressatengerecht und bei individuellen Angeboten personalisiert aufbereitet werden.

Der Prozess würde am Ende zu einem nutzerzentrierten und niedrigschwelligen Zugang zu benötigten Informations- und Beratungsangeboten führen. Dazu brächte es den Willen und den Mut, über eine Legislaturperiode hinaus zu denken und zu handeln. Doch es könnte sich politisch lohnen: Wenn das Bedürfnis der Bürger gut informiert, gehört und unterstützt zu werden, gestillt wird, werden sie dies anerkennen und honorieren.

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