Der aktuell wieder aufflammende Streit um die Zulässigkeit der Sterbehilfe schien im Jahr 2015 beendet zu sein. Nach kontroverser Diskussion hatte der Bundestag mit der Einfügung des § 217 in das Strafgesetzbuch die geschäftsmäßige Beihilfe zur Selbsttötung für strafbar erklärt. Dadurch sollte die Tätigkeit von Sterbehilfeorganisationen unterbunden werden. Von der Strafbarkeit betroffen waren aber auch Ärzte, die Hilfe zur Selbsttötung leisten wollten. Damit hatte der Gesetzgeber die professionelle Suizidassistenz in Deutschland unmöglich gemacht. Die Kollateralschäden waren beträchtlich: Sterbewillige Personen wurden auf die Brachialformen der Selbsttötung verwiesen oder mussten den beschwerlichen Weg ins Ausland gehen, um dort professionelle Angebote in Anspruch zu nehmen. „Foreign Shopping“ – ein generell beliebter Weg der deutschen Politik, sich in ethisch schwierigen Fragen selbst nicht die Hände schmutzig zu machen und darauf zu vertrauen, dass andere Länder liberalere Regelungen haben, von denen man dann selbst profitiert. So ist es nicht nur bei der Suizidassistenz, so ist es auch bei der Fortpflanzungsmedizin, der Stammzell- oder Embryonenforschung.
Das Bundesverfassungsgericht hat dem in seiner bahnbrechenden Entscheidung vom 26. Februar 2020 einen Riegel vorgeschoben. Die Karlsruher Entscheidung ist in mehrfacher Hinsicht von grundsätzlicher Bedeutung: Das Gericht erkennt erstmals ein Grundrecht des Menschen auf selbstbestimmtes Sterben an, das seine Wurzel in der Menschenwürde hat. Dieses Grundrecht steht allen Menschen unabhängig von einer medizinischen Notlage zu und umfasst auch die Inanspruchnahme der Hilfe dazu bereiter Dritter, also vor allem von Ärzten und Sterbehilfeorganisationen. Das BVerfG erteilt dem „Foreign Shopping“ eine klare Absage: Es genügt nicht, dass suizidwillige Personen auf Angebote im Ausland zurückgreifen können. Die deutsche Rechtslage selbst muss so gestaltet sein, dass das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben unter Inanspruchnahme professioneller Hilfe in Deutschland wahrgenommen werden kann. Dies war durch den § 217 StGB und das gleichzeitig geltende berufsrechtliche Verbot für Ärzte, Suizidassistenz zu leisten, nicht gewährleistet. Daher hat das Bundesverfassungsgericht diese Vorschrift für nichtig erklärt. Mittlerweile hat auch die Bundesärztekammer das berufsrechtliche Verbot für Ärzte, Hilfe zum Suizid zu leisten, aus der Musterberufsordnung für die Ärzte gestrichen. Es ist davon auszugehen, dass die Landesärztekammern dies in den Landesberufsordnungen nachvollziehen werden.
Keine systemischen Missstände belegt
Das bedeutet: Nach der derzeit in Deutschland geltenden Rechtslage dürfen sowohl Ärzte als auch Sterbehilfeorganisationen professionelle Hilfe zur Selbsttötung leisten. Warum sollte es dabei nicht bleiben? Anders als die mittlerweile von mehreren Abgeordneten des Deutschen Bundestages vorgelegten Gesetzentwürfe vermuten lassen, besteht keine Notwendigkeit für eine erneute gesetzliche Regulierung der Suizidassistenz. Weder hat das Bundesverfassungsgericht eine solche gefordert noch sind systemische Missstände in der Praxis von Sterbehilfeorganisationen belegt, die den Gesetzgeber auf den Plan rufen müssten. Der subkutane Vorbehalt in Teilen der Politik gegen Sterbehilfeorganisationen verkennt, dass die Existenz professioneller Suizidassistenz einen präventiven Charakter entfaltet. Sinnvoll wäre zusätzlich der Ausbau von niederschwelligen freiwilligen Angeboten zur Suizidprävention, insbesondere zur Beratung. Dafür braucht man indes keine gesetzliche Regulierung der Suizidassistenz.
Allerdings ist der Bundestag an einer Neuregelung verfassungsrechtlich nicht gehindert. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen breiten Gestaltungsspielraum zur Regelung der Suizidassistenz eingeräumt, von dem die jetzt vorliegenden Regelungsvorschläge Gebrauch machen. Der Gesetzgeber ist befugt, die Sterbehilfe zu regulieren, um das Leben vor übereilten Entschlüssen, gesellschaftlichem Druck und ähnlichen, die Selbstbestimmung beeinträchtigenden Einwirkungen auf den Einzelnen zu schützen. Hierfür darf er Beratungspflichten, Wartefristen oder auch das Vier-Augen-Prinzip sowie die personelle Trennung von Beratung und Sterbebegleitung vorsehen. Dies tun die vorliegenden Gesetzentwürfe in unterschiedlicher Weise.
Beratungsangebote zur Suizidprävention verbessern
Eine verfassungsrechtliche Grenze ist dem Gesetzgeber aber insoweit gezogen, als die Regulierung nicht dazu führen darf, dass das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben faktisch leerläuft. Wenn etwa der interfraktionelle Gesetzentwurf um den Abgeordneten Castellucci eine doppelte Untersuchung durch einen Psychiater, eine zusätzliche komplexe Beratung „mit einem multiprofessionellen und interdisziplinären Ansatz“ und darüber hinaus mehrfache Wartefristen verlangt, könnte dies in der Praxis prohibitive Wirkung entfalten und zu einem faktischen Leerlaufen des Grundrechts auf selbstbestimmtes Sterben führen – dies wäre verfassungswidrig und könnte vor dem Bundesverfassungsgericht durch eine erneute Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden.
Was sollte der Bundestag also tun? Eine grundsätzliche Neuregelung der Suizidassistenz ist derzeit nicht angezeigt. Die geltende Rechtslage wird dem vom Bundesverfassungsgericht etablierten Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben gerecht. Sinnvoll wäre eine Änderung des Betäubungsmittelrechts, um den Zugang zu Stoffen wie Natrium-Pentobarbital zu ermöglichen. Ob sich systemische Missstände in der Sterbehilfepraxis, die eine gesetzliche Regulierung nahelegen könnten, herausbilden, müsste man zunächst – wissenschaftlich und interdisziplinär begleitet – empirisch beobachten. Davon unabhängig ist es dem Staat jederzeit möglich, Beratungsangebote zur Suizidprävention zu verbessern. Dies ist mühsam und kostet Geld. Da ist paternalistische Regulierung die leichtere Übung. Die vorliegenden Gesetzentwürfe lassen leider erahnen, dass es darauf hinauslaufen wird.
Prof. Dr. Josef Franz Lindner ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Augsburg.