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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Zeit für echte Patientenbeteiligung

Torben Elbers, Sprecher der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS
Torben Elbers, Sprecher der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS Foto: privat

Eine starke Patientenbeteiligung auf Augenhöhe mit Stimmrecht ist ein Gewinn für alle, meint Torben Elbers, Sprecher der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS, anlässlich des heutigen weltweiten ME/CFS-Tages. Denn: Wissenschaft sei nicht ohne Bias und Dogma. Patient:innen könnten helfen, die Erkrankung zu objektivieren.

von Torben Elbers

veröffentlicht am 12.05.2022

aktualisiert am 28.12.2022

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Dass man nach einem Infekt sein Leben lang chronisch krank sein kann, wissen Menschen mit Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) schon lange. Die Weltgesundheitsorganisation führt ME/CFS seit 1969 als neurologische Erkrankung, die oft nach einem Virusinfekt auftritt – zum Beispiel nach dem Pfeifferschen Drüsenfieber oder der Influenza. Über 60 Prozent der ME/CFS-Betroffenen sind erwerbsunfähig. Jede*r Vierte kann das Haus nicht mehr verlassen. Der volkswirtschaftliche Schaden für Deutschland liegt schätzungsweise bei über 7 Milliarden Euro. Pro Jahr. Trotzdem gab es bis vor kurzem keine Förderung für biomedizinische Forschung in Deutschland und nur unzureichende weltweit. Die Erkrankung wurde von der Mehrheit der Ärzt*innen ignoriert. Kein Wunder also, dass alle vom Auftreten von Long COVID überrascht waren. Alle, bis auf ME/CFS-Erkrankte und -Expert*innen. 

ME/CFS-Erkrankten wurde jahrzehntelang nicht zugehört. Das ist ein Grund, weshalb wir über ME/CFS so wenig wissen wie über vergleichbare Erkrankungen vor vierzig Jahren. 1989 wurde ein Artikel veröffentlicht, der den Grundstein dafür legte, dass ME/CFS kaum erforscht, behandelt oder versorgt wurde: Psychiater behaupteten, die Erkrankten würden an einer falschen Krankheitsüberzeugung leiden und würden sich nur zu wenig bewegen. Befragungen unter Patient*innen zeigten jedoch immer wieder, dass Aktivierungstherapie zu einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes führt. Grund hierfür ist das für ME/CFS charakteristische Symptom Post-Exertional Malaise (PEM) – die Verschlechterung aller Symptome nach geringer körperlicher oder geistiger Aktivität.

Patient*innenbeteiligung veränderte Leitlinien

Dennoch hat es bis zum Jahr 2021 gedauert, bis beispielsweise das renommierte britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) in den Leitlinien für ME/CFS vor Aktivierung warnte. Vorausgegangen war eine kontinuierliche Patient*innenbeteiligung und eine ausführliche Literaturrecherche von Expert*innen des Instituts mit dem Ergebnis: Bei allen untersuchten Studien zu körperlichem Aufbautraining und kognitiver Verhaltenstherapie für ME/CFS wurden die Resultate mit „niedriger“ oder „sehr niedriger“ Qualität bewertet.

Es gibt keine wissenschaftliche Evidenz, dass körperliches Aufbautraining und kognitive Verhaltenstherapie wirksame Behandlungen für ME/CFS sind. Im Gegenteil. Das Problem: Die Studien arbeiteten mit zu breiten und veralteten Diagnosekriterien, die auch Menschen mit anderen Krankheitsbildern einschlossen. Außerdem waren fast alle Studien ungeblindet und arbeiteten mit subjektiven Endpunkten, was zu einer großen Gefahr eines Bias führt und den Daten die Aussagekraft nimmt.

„Ernste, chronische, komplexe, systemische Erkrankung“

Ein niederschmetterndes Ergebnis für einen bis dahin dominierenden Forschungsbereich bei ME/CFS, dessen Vertreter gerne über Menschen mit ME/CFS sprechen, aber nicht mit ihnen. Dies hatte sich bereits 2015 angekündigt, als das amerikanische Institute of Medicine nach der Auswertung von 9.000 Studien zu dem Ergebnis kam: „ME/CFS ist eine ernste, chronische, komplexe, systemische Erkrankung, die das Leben der Patienten tiefgreifend beeinflussen kann“. Der Report entstand unter intensiver Patientenbeteiligung.

Bei Long COVID waren es wieder Erkrankte (später ME/CFS-Expert*innen), die in einer umfangreichen Studie zeigten, dass über 70 Prozent der Long-COVID-Befragten unter dem Kernsymptom von ME/CFS litten: der Post-Exertional Malaise. Nachdem ihnen Erkrankte mit ME/CFS das Symptom erklärt haben. Viele weitere Studien zeigen, dass ein Teil der Menschen mit Long COVID die Diagnosekriterien für ME/CFS erfüllen. Trotzdem werden bis heute in den meisten Studien zu Long COVID die Diagnosekriterien für ME/CFS nicht abgefragt. Und das, obwohl Aktivierung auch für diese Patient*innengruppe zu einer Gesundheitsverschlechterung führen kann. Die Menschen mit Long COVID, die die ME/CFS-Kriterien erfüllen, müssen identifiziert, benannt und vor Studien dieser Art geschützt werden. Wer eine Krankheit nicht in die Differentialdiagnose mit einbezieht, darf nicht behaupten, sie sei nicht da.

Erkrankten wird oft Wissen über eigene Erkrankung abgesprochen

Die Wahrnehmung in der Medizin von „Patient Led Research“ oszilliert zwischen „Citizen Scientists“ und „Mickey Mouse Science“. Im Sinne der epistemischen Ungerechtigkeit wird Erkrankten häufig das Wissen über ihre eigene Erkrankung abgesprochen. Diese Überzeugung sitzt so tief, dass selbst Ärzt*innen, die an Long COVID erkranken, regelmäßig berichten, von ihren Kolleg*innen Gaslighting zu erfahren. Dabei waren es in der Erforschung von ME/CFS selbst erkrankte Expert*innen wie Leonard Jason, der in den 1990er Jahren bewies, dass es nicht „nur“ 20.000 Menschen mit ME/CFS in den USA gab, sondern über eine Million. Oder die schwer erkrankte Ellen Goudsmit, die in den 1980ern federführend das Pacing mit entwickelt hat  eine Methode des Krankheitsmanagements für Menschen mit ME/CFS, die jetzt auch bei Long COVID Anwendung findet. 

Eine starke Patientenbeteiligung auf Augenhöhe mit Stimmrecht – über eine bloße Beteiligungssimulation hinaus – ist ein Gewinn für alle. Wissenschaft ist nicht ohne Bias und Dogma, die Patient*innen können helfen, die Erkrankung zu objektivieren. Konkret heißt das

  1. ME/CFS- und Long-COVID-Betroffene in die Hypothesenbildung, das Studiendesign und die Umsetzung der Studie einzubinden. 
  2. Betroffenen eine Koautorenschaft an wissenschaftlichen Artikeln zu ermöglichen. 

So fände die Expertise der Erkrankten auch im Endprodukt der wissenschaftlichen Arbeit ihren angemessenen Platz. 

Für eine schnelle Versorgung, Erforschung und Aufklärung haben die Patientenorganisationen Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und Long COVID Deutschland einen Nationalen Aktionsplan veröffentlicht, der von ME/CFS- und Long-COVID-Expert*innen unterstützt wird. Der Plan wurde dem Bundesministerium für Gesundheit und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung übergeben. Die Zeit drängt. Die Corona-Maßnahmen werden vielerorts gelockert und die Ansteckungszahlen sind hoch. Dabei ist bekannt, dass eine Impfung das Long-COVID-Risiko reduziert, Long COVID aber nicht bei allen verhindert. Und so laufen wir in eine unheilvolle Mélange aus Fachkräftemangel, Babyboomern, die in Rente gehen, und Hunderttausend(en) chronisch kranken jungen Menschen – zusätzlich zu den 250.000, die bereits seit Jahren mit ME/CFS erkrankt sind. Noch teurer als Geld für Forschung, Versorgung und Aufklärung in die Hand zu nehmen, wäre es, dies nicht zu tun.

Torben Elbers ist Sprecher der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS e.V.

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