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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Ölkonzerne pulverisieren Pariser Abkommen

Johanna Büchler, Expertin für Klimaschutz im Verkehr, Deutsche Umwelthilfe
Johanna Büchler, Expertin für Klimaschutz im Verkehr, Deutsche Umwelthilfe Foto: promo

Wenn sich die Kraftstofflobby ab heute zu ihrem jährlichen Kongress in Berlin trifft, geht es nur vordergründig um Agrosprit, E-Fuels und Wasserstoff. Im Hintergrund stehen die mächtigsten fossilen Konzerne der Welt und das Ziel, dass Mobilität abhängig bleibt vom Öl.

von Johanna Büchler

veröffentlicht am 22.01.2024

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Heute startet in Berlin der alljährliche Kongress der Kraftstoffindustrie. Zwei Tage lang geht es unter dem Motto „Kraftstoffe der Zukunft“ um Rohstoffe für biogenen Sprit, Wasserstoff-Fahrzeuge und den Markthochlauf von E-Fuels. Gäste aus der deutschen und europäischen Politik werden erwartet. Die großen Schlagwörter sind natürlich Klimaschutz, Nachhaltigkeit und Dekarbonisierung.

Über E-Fuels, Agrokraftstoffe und Co. wird in Deutschland lebhaft diskutiert. Viel zu selten wird darüber gesprochen, dass im Hintergrund dieses Diskurses mächtige fossile Interessen stehen. Beim Kraftstoffkongress wird das deutlich sichtbar: Die Sponsorenliste der Veranstaltung trieft nur so von Öl. Einer der „Goldpartner“ der Veranstaltung ist der britische Ölmulti BP, dahinter reihen sich Total und der Lobbyverband der Ölindustrie (en2x) ein, der unter anderem die Interessen von Shell und Esso/Exxon vertritt. Hinter den „Kraftstoffen der Zukunft“ stehen die Ölkonzerne der Vergangenheit – und zwar die größten und mächtigsten der Welt.

Kohlenstoffbomben: jeweils mehr als eine Milliarde Tonnen CO2

Deren Pläne und Lobbyinteressen haben mit Klimaschutz, Nachhaltigkeit und Dekarbonisierung gar nichts zu tun. Von ihren – völlig unzureichendenKlimaversprechen der Vergangenheit hat die Ölindustrie sich längst verabschiedet. Die monströsen Profite aus den gestiegenen Energiepreisen der letzten Jahre pumpt sie stattdessen in eine kolossale fossile Expansion. Die 20 größten fossilen Konzerne (darunter BP, Total, Shell, Exxon) planen bis 2030 Investitionen von mehr als 520 Milliarden US-Dollar in neue Ölfelder, darunter zig sogenannte Kohlenstoffbomben – fossile Extraktionsprojekte, die während ihrer Laufzeit jeweils mehr als eine Milliarde Tonnen klimaschädliches CO2 produzieren werden. Kein einziges davon ist mit der 1,5-Grad-Grenze vereinbar. Die Ölkonzerne pulverisieren gerade in Echtzeit das Pariser Abkommen und jagen die Erde ins irreversible Klimachaos. 

Wer solche Pläne vorantreibt, hat natürlich ein massives Interesse daran, dass der größte Absatzmarkt für fossiles Öl langfristig erhalten bleibt. Das ist der Verkehr. Knapp zwei von drei Litern Öl wurden 2021 in der EU im Verkehrssektor verbrannt, der Löwenanteil im Straßenverkehr. 

Nicht-fossile Kraftstoffe wie Agrosprit oder E-Fuels zu propagieren liefert der Ölindustrie den perfekten Deckmantel, um das fossile „weiter so“ zu sichern. Das Anpreisen von Scheinlösungen („pushing non-transformative solutions“) ist eine der bewährten Verzögerungstaktiken der Anti-Klimalobby. Die beworbenen Spritalternativen sind nämlich allesamt ungeeignet, um fossiles Öl zeitnah und in relevanten Mengen zu ersetzen: 

Agrokraftstoffe aus Nahrungsmitteln wie Soja, Raps und Getreide werden fossilem Sprit im einstelligen Prozentbereich beigemischt und belegen schon dafür rund um den Globus riesige Anbauflächen – in direkter Konkurrenz zur Lebensmittelproduktion und mit gewaltigen Schäden für Klima und Natur. Selbst die EU will kein weiteres Wachstum der Agrospritproduktion. 

• Biogene „Rest- und Abfallstoffe“ wie altes Speiseöl oder Überreste von geschlachteten Tieren (meist euphemistisch „tierische Fette“ genannt) gibt es nur in Mengen für etwa ein Prozent des heutigen Kraftstoffbedarfs im Verkehr. Die Potenziale sind bereits ausgereizt.

E-Fuels sind extrem teuer und werden nirgendwo kommerziell produziert. Von den weltweit angekündigten Produktionsanlagen bis 2035 sind 99 Prozent nicht sicher finanziert – und selbst wenn alle gebaut würden, wäre die produzierte E-Fuel-Menge nicht mehr als ein Tropfen auf den sehr heißen Stein

Und so ist jede Debatte um diese vermeintlichen Kraftstoffalternativen am Ende vor allem ein Win-Win für die Ölindustrie: Es entsteht der Anschein von Klimaschutz und Fortschritt – ohne Gefahr, dass der Verkehr tatsächlich vom fossilen Tropf loskommt. Es wird diskutiert, was im Verbrennungsmotor verheizt wird und kaum infrage gestellt, dass Mobilität von Verbrennung abhängig bleibt

Bundesregierung spielt das Spiel mit

Die Bundesregierung spielt dieses Spiel mit. Schirmherr des Kraftstoffkongresses diese Woche ist das Bundesverkehrsministerium, und die Verkehrspolitik der Ampel beschirmt fossile Interessen. Volker Wissing hat sich im vergangenen Jahr neben Autobahnen vor allem für Kraftstoff-Scheinlösungen stark gemacht: Die absurde staatliche Förderung für Agrosprit läuft weiter. Mit der Zulassung paraffinischer Reinkraftstoffe wie HVO100 (das zum Beispiel auf Palmöl, Altspeiseöl oder Tierresten basieren kann) befeuert die Bundesregierung hochproblematische Rohstoffmärkte, die massive Klima- und Umweltschäden verursachen und zu Betrug geradezu einladen. Für ein Last Minute E-Fuel-Schlupfloch im bereits beschlossenen EU-Verbrennerausstieg wurden europäische Partner vor den Kopf gestoßen.

Das jahrelange Trommelfeuer der Kraftstofflobby spiegelt sich auch in völlig verzerrten politischen Diskursräumen – in denen Forderungen nach konsequenter Verkehrsverlagerung auf Fuß, Fahrrad, Bus und Bahn und rascher Elektrifizierung als naiv und weltfremd gelten, während Vorschläge zur Errichtung gigantischer stromfressender E-Fuel-Fabriken in ärmeren Ländern am anderen Ende der Welt, inklusive Meerentsalzungsanlagen, kommerziell nicht verfügbaren CO2-Luftsaugern, Verladeterminals und jeder Menge weiterer Infrastruktur, seriös und realistisch wirken.

Verbrennen ist von gestern

Noch verfängt die Mär von den grünen Kraftstoffen bei der Bevölkerung. Laut einer Umfrage für den „Spiegel“ befürworteten im März 2023 über 60 Prozent die Aufweichung des EU-Verbrennerausstiegs zugunsten von E-Fuels. Klar: Solange ein simpler Kraftstoff-Switch als Lösung aller Klima- und Umweltprobleme im Verkehr propagiert wird, hält sich die Aufgeschlossenheit für als anstrengender empfundene, transformative Lösungen in Grenzen. Die Kraftstoff-Story von Industrie und Politik stellt damit ein zentrales Hindernis für die nötige Mobilitäts- und Antriebswende dar.

Aber Scheinlösungen sind immer eine prekäre Sache. Wie lange lassen sich Menschen mit E-Fuel-Märchen zum Narren halten, wenn gleichzeitig die Klimakrise immer häufiger und brutaler zuschlägt und fünf Erdsysteme am Kipppunkt stehen? Die Gerichte haben die rechtswidrige Klimapolitik der Bundesregierung im Verkehr bereits deutlich verurteilt. Echte Lösungen werden immer entschiedener eingefordert.

Wir müssen uns schleunigst aus dem Qualm der fossilen Nebelkerzen befreien. Mobilität für alle innerhalb der planetaren Grenzen ist möglich, sie wird sogar deutlich gesünder, stressärmer und fairer als die heutige sein. Verbrennen ist von gestern, die Mobilität der Zukunft ist muskel- und strombetrieben. Die nötigen Maßnahmen sind lange bekannt. Ein Kongress dazu stünde dem Verkehrsministerium gut zu Gesicht.

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