Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten in einer Verwaltung und haben eine Idee für eine kleine, innovative IT-Lösung, die ihre fachliche Arbeit ungemein erleichtern würde. Glücklicherweise haben sie in ihrer Stadt auch ein quirliges Innovationslabor, das ihnen bei der Umsetzung unkomplizierte Unterstützung anbietet. Tatsächlich erweist sich die Idee als recht einfach realisierbar. Ein paar Tage Programmierarbeit, ein paar Tests und Anpassungen, und schon ist das gewünschte Tool einsatzbereit.
Weil es sich um eine Eigenentwicklung handelt, fallen nicht einmal Lizenzgebühren an und auch sonst ist die Software im besten Sinne harmlos: Keine sicherheitskritischen Daten, keine komplizierten AGBs, sondern einfach eine praktikable Lösung für ein ganz konkretes Problem. Kann Verwaltungsdigitalisierung wirklich so einfach sein? Natürlich nicht.
Der Haken mit den eigenen Lösungen
Eine neue Software in der Verwaltung einzusetzen, ist nämlich nicht in erster Linie eine technische Herausforderung, sondern vor allem ein bürokratischer Albtraum. Wer sich auf die abenteuerliche Reise begibt, die „Neueinführung eines IKT-Fachverfahrens“ zu beantragen, sieht sich alsbald mit einem kaum mehr zu überblickenden Wulst aus Vorgaben und Vorschriften, Prüf- und Abstimmungsschritten konfrontiert. Hier eine kleine Kostprobe der Dokumente, die Sie nun anfertigen dürfen:
IT-Fachkonzept; IT-Betriebskonzept; Datenschutzkonzept; Schnittstellenkonzept; Konzept zur Beteiligung des Personalrats; Erörterung einer möglichen Leistungs- und Verhaltenskontrolle; Konzept zur Umsetzung der Verordnung für barrierefreie Informationstechnologie; Sicherheitskonzept; Rollen- und Zugriffskonzept; Speicher- und Löschkonzept; Konzept zur Schulung der Mitarbeitenden…
…und das ist nur ein kleiner Teil der benötigten Unterlagen. Die Gesamtzahl der Dokumente dürfte irgendwo im oberen zweistelligen Bereich liegen. So genau lässt sich das gar nicht sagen, weil die bestehenden Vorschriften überall ein wenig anders interpretiert werden. Auf einer Podiumsdiskussion beim City-Lab-Sommerfest berichtete ein Kollege neulich von insgesamt 79 Konzepten, die zur Genehmigung seiner (übrigens mit einem Innovationspreis ausgezeichneten) IT-Anwendung erforderlich waren.
Nichts als zusätzliche Arbeit für Mitarbeitende
Nicht viele Verwaltungsbeschäftigte haben einen derart langen Atem. Zumal ein nicht unwesentlicher Teil der IT-Anwendungen in der Verwaltung nach wie vor nicht von spezialisierten Digitalteams, sondern von der jeweils zuständigen Fachverwaltung verantwortet wird. Ein Mitarbeiter des Grünflächenamts muss dann also neben seinen eigentlichen Tätigkeiten mal eben ein Schnittstellen- oder IT-Sicherheitskonzept schreiben, wenn er eine neue Software zur Verwaltung des kommunalen Baumbestandes nutzen will.
Weil das in den meisten Fällen nicht realistisch sein dürfte, bietet es sich an, diese Arbeit an externe Dienstleister auszulagern. Die wiederum lassen sich das teuer bezahlen. Gerade bei kleineren Anwendungen kann es passieren, dass die Kosten für die Erstellung der zur Freigabe nötigen Dokumente die Kosten für die eigentliche Software weit übersteigen.
Die überbordende Bürokratie kostet uns aber nicht nur Geld, sondern vor allem Zeit. All die Dokumente müssen schließlich nicht nur geschrieben, sondern auch an unterschiedlichen Stellen geprüft werden, was Monate, in Summe sogar Jahre dauern kann. Wie soll unter diesen Umständen das vielbeschworene „Einfach mal machen!“ bei der Verwaltungsdigitalisierung überhaupt möglich sein?
Der gigantische Aufwand wäre vielleicht noch vertretbar, wenn er wenigstens zu guten Resultaten führen würde, aber nicht mal das ist sicher. Gerade bei IT-Großprojekten der Verwaltung lässt sich ja in schöner Regelmäßigkeit beobachten, dass am Ende einer zähen Abstimmung eine Kompromisslösung steht, die zwar irgendwie alle rechtlichen Vorgaben erfüllt, aus Nutzersicht aber weitgehend unbrauchbar ist. Aber solange alle Beteiligten sich an den ordnungsgemäßen Prozess gehalten haben, ist immerhin niemand Schuld.
Vorschriften – gut gemeint, schlecht für die Praxis
Bürokratieprobleme sind fast immer systemischer Natur: Für jede einzelne Vorgabe gibt es gute Gründe, aber im Zusammenspiel der unzähligen Anforderungen und Interessen entsteht etwas, das im Grunde niemand so will oder für sinnvoll hält. Weder in der Exekutive, noch in den Parlamenten, und erst recht nicht bei den Bürgerinnen und Bürgern.
Dass Verwaltungssoftware oft sperrig, überkomplex und unintuitiv ist, könnte auch daran liegen, dass die Prozesse dahinter es ebenso sind. Oft wurden diese Prozesse gar nicht bewusst oder gar strategisch gestaltet, sondern sie sind einfach das Resultat von zahlreichen Vorschriften, die sich über viele Jahre in meist guter Absicht akkumuliert haben. Eben deshalb ist es so schwer, sie zu verändern. Versuchen sollten wir es trotzdem.
Ein erster Schritt könnte schlicht darin bestehen, mehr Transparenz über Prozesse und Vorschriften zu schaffen. Aktuell wissen auch innerhalb der Verwaltung nur wenige Eingeweihte, welche Schritte konkret nötig sind, um ein IT-Verfahren erfolgreich an den Start zu bringen. Ein vernünftiges Wissensmanagement, Schritt-für-Schritt-Anleitungen oder Vorlagen für die zur Genehmigung notwendigen Dokumente sucht man vergebens. Wir haben deshalb im City Lab ein Projekt zur Entwicklung eines „IT-Routenplaners Verwaltung“ begonnen, um gemeinsam mit erfahrenen Verwaltungsveteran:innen dieses Wissen besser zugänglich zu machen.
Von dort wäre es ein nächster sinnvoller Schritt, die einzelnen Prüf- und Prozessschritte zu evaluieren und wo immer möglich pragmatisch zu verschlanken oder sogar zu automatisieren (ob eine Webseite die BITV-Anforderungen für Barrierefreiheit erfüllt, lässt sich etwa in Sekunden mit entsprechenden Tools validieren, dazu muss man keine langen Konzepte schreiben). Auch hierbei sind die konkreten Erfahrungswerte aus der Verwaltungspraxis unerlässlich. Bislang gilt noch zu häufig: Vorgaben werden „oben“ gemacht, aber umgesetzt wird „unten“. Ohne einen offenen Dialog darüber, was funktioniert und was nicht, werden viele Vorschriften jedoch realitätsfremd bleiben.
In diesem Sinne schließe ich heute mit einem Aufruf: Wenn Sie sich schonmal durch das bürokratische Dickicht der Verwaltungsdigitalisierung gekämpft und unterwegs vielleicht sogar ein paar Ideen gesammelt haben, wie es besser gehen könnte, freue ich mich über eine Nachricht!
Der promovierte Kultur- und Medienwissenschaftler Benjamin Seibel leitet das City Lab Berlin. Das 2019 gegründete Stadtlabor wird von der Berliner Senatskanzlei finanziert und der Technologiestiftung Berlin betrieben. Im City Lab arbeiten Teams aus der öffentlichen Verwaltung gemeinsam mit der Stadtgesellschaft und der Forschung an der Stadt der Zukunft.
Bisher von ihm in dieser Rubrik erschienen: „Irgendwas mit Digitalisierung?“, „Mein Besuch der Smart City Expo“, „Mut zu Risiko und gesundem Menschenverstand“, „Im Workshop-Hamsterrad“, „Wenn Labore erwachsen werden“, „Schriftliche Anfragen sind nur für analoge Verwaltungen ein Problem“, „Bürgeramt der Zukunft: Mehr als digital“, „Mit Open Data Berliner Weihnachtsmärkte finden“, „Conny hat gekündigt“ und „Eine Strategie erwacht zum Leben“.