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Standpunkte Die Frage nach dem Ende

Claudius Jehle, Geschäftsführer Volytica Diagnostics
Claudius Jehle, Geschäftsführer Volytica Diagnostics Foto: promo

Die Entscheidung, wann eine Batterie zum Beispiel im E-Auto aussortiert wird, basiert auf überholten Standards. In der EU werden bald bis zu zwei Millionen Tonnen Batterien pro Jahr verfrüht ausgesondert. Eine individuellere, flexiblere Betrachtung und die Nutzung neuester Technologien könnten dazu führen, dass zehn bis 30 Prozent mehr nutzbare Lebenszeit herausgeholt werden, schreibt Claudius Jehle. Sein Unternehmen entwickelt die Diagnose-Software dafür.

von Claudius Jehle

veröffentlicht am 22.03.2021

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Ohne eine nachhaltige Verkehrswende wird die Europäische Union ihr Ziel der Klimaneutralität bis 2050 wohl verfehlen. Auch wenn 2020 die Zulassungszahlen bei batterieelektrischen Pkw und vielen anderen batteriebetriebenen Anwendungen EU-weit sprunghaft angestiegen sind, beeinträchtigt ein ganz anderer Faktor einen wirklich nachhaltigen Umgang mit Lithium-Ionen-Batterien: die Frage nach dem Ende.

Ein mutmaßlich überkommener Quasi-Standard zum Aussonderungszeitpunkt, der jedoch als Industriekonsens angesehen werden kann, wird in den nächsten Jahren selbst konservativen Schätzungen zufolge zur verfrühten Aussonderung von bis zu zwei Millionen Tonnen Batterien führen – pro Jahr, Tendenz steigend. Eine individuellere, flexiblere Betrachtung und die Nutzung neuester Technologien könnten dazu führen, dass diese ökologischen und ökonomischen Potenziale gehoben und mindestens zehn bis 30 Prozent mehr nutzbare Lebenszeit aus der durchschnittlichen Batterieanwendung geholt werden können. Neben dem Ressourcenaspekt bedeutet das ab 2025 bis zu 30 Milliarden Euro Werterhaltung – pro Jahr.

Warum werden diese Potenziale nicht gehoben? Sie werden langsam gehoben, aber Batteriediagnose ist komplex, und wir stehen erst am Anfang der Elektromobilität. Einige Unternehmen, so auch Volytica Diagnostics, haben sich dem Ziel verschrieben, Batteriedegradation einfach messbar, optimierbar und planbar zu machen und so einen wichtigen Beitrag zu einer nachhaltigeren Zukunft zu leisten.

Der wachsende Markt batteriebetriebener Anwendungen, sei es Pkw, Bus, Stationärspeicher und andere,  geht mit einer stetig steigenden Batterienachfrage einher, die aber absehbar nicht vollständig durch das Angebot gedeckt sein wird. Die Knappheit verstärkt den Druck, dem teuersten Verschleißteil, das wir im Alltag wohl kennen, ein Optimum an Lebenszeit abzuringen. Das trifft im privaten Kontext ebenso zu wie in kommerziellen Anwendungen, wo Batterien mit ihren zwar hohen Anschaffungs- aber sehr viel geringeren Betriebskosten ihre Stärken auch wirtschaftlich ausleben.

Die Lebenserwartung von Batterien streut wie beim Menschen

Der Wunsch nach einem möglichst langlebigen Betrieb von Batterien geht mit der Frage nach dem Ende einher – wann ist Schluss? Es kann als Konsens angesehen werden, dass die üblichen End-of-Life-Kriterien (EOL) an der Restkapazität (entnehmbare Energiemenge, d.h. grob mit Reichweite oder Betriebsdauer), teilweise am Innenwiderstand (Geschwindigkeit, mit der entnommen werden kann), festgemacht werden. Das ist sinnvoll, denn diese beiden Größen beeinflussen, ob eine Batterie ihren designierten Anwendungszweck noch erfüllen kann oder nicht. Sinkt die Kapazität so weit, dass ein Elektrobus es abends nicht mehr ins Depot schafft, ist offensichtlich Schluss. 

Es ist nur ebenso weitgehend Konsens, sich statt einer entsprechenden individuellen, echten eignungsbasierten Betrachtung Behelfskriterien zu bedienen: Sobald 80 Prozent (teilweise ist von 70 Prozent die Rede) der unter Laborbedingungen theoretisch entnehmbaren Ladungsmenge (State of Health, SOH) erreicht sind, gilt eine Batterie heute allgemein als verschlissen. Das ist eine teilweise hilfreiche Regel, ähnlich der Aussage, dass die männliche Lebenserwartung in Europa bei 78,3 Jahren liegt.

Sie wird aber der schieren Fülle von Anwendungsszenarien und dem erheblichen Einfluss der Nutzung auf die tatsächliche Alterung nicht gerecht. Die Streuung der Lebenserwartung beim Menschen wird wohl gut 30 Jahre betragen – analog bei der Batterie. Mit einem sehr entscheidenden Unterschied: Die Tendenz ist, dass Batterien selbst ohne aktive Optimierung eher länger Nutzen stiften könnten, das tatsächliche Ende also zehn bis 30 Prozent jenseits des üblichen EOL zu suchen ist. Wenn man nur hinschaut.

Kriterien basieren auf theoretischen Erwägungen

Zum Ursprung der Regel gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Recherchen können die 80-Prozent-Regel auf Laborversuche in den 1980ern und 90ern zurückverfolgen, wo sie zur Vereinheitlichung von Versuchsabläufen auftauchen. Oft ist von „Funktionsbeeinträchtigungen“ unterhalb der 80 Prozent die Rede, nur sehr selten von einer steigenden Ausfallgefahr im Sinne eines Sicherheitsrisikos. Das überrascht, dominieren doch seit Jahren Sicherheitsbedenken die End-of-Life-Diskussion.

Die theoretische Definition führt auch dazu, dass der SOH-Laborkennwert aus realen, teilweise chaotischen Nutzungsprofilen nur schwer ermittelbar ist. Daher wird oft ein noch pauschaleres Kriterium in üblichen Garantiebedingungen verwendet; zum Beispiel wird eine Nutzungszeit (etwa acht Jahre) oder ein Energiedurchsatz (beispielsweise 1000 Ladezyklen, das heißt, 1000 Tage lang einmal am Tag vollladen) zugesichert, die bei Worst-Case-Abschätzung das Erreichen der 80 Prozent annehmen.

Salopp zusammengefasst: Übliche End-of-Life-Kriterien basieren auf theoretischen Erwägungen der vergangenen 30 Jahre und sind nur teilweise auf die Vielfältigkeit realer Anwendungen übertragbar. Zur Reduktion der Komplexität wird sich oft noch konservativerer Kriterien bedient – und damit wohl durchschnittlich zehn bis 30 Prozent Batteriekapazität in Frührente geschickt. 

Wie Lösungsansätze aussehen

Im Kern geht es um Transparenz. Die Offenlegung des tatsächlichen Verschleißes und der Einflussfaktoren, gemessen beispielsweise am genannten SOH, aber zwingend auch neuen, praxisnahen Kenngrößen, sowie ehrlich anwendungsbezogene Aussonderungskriterien können wirtschaftliche und ökonomische Potenziale eröffnen, die die Optimierung von Energiedichten, neuen Zellkomponenten und effizienteren Antriebssträngen in den Schatten stellen.

Europa ist bei der Zellfertigung auf Aufholjagd. Doch unsere Stärken liegen auch in der zunehmenden Digitalisierung, der Vernetzung und der Analytik. Labortechnische Ausmessung von immer neueren und besseren Batteriezellen dauert Jahrzehnte – dabei existieren die nötigen Erkenntnisse für einen Paradigmenwechsel bereits: Sie fahren schon heute auf unseren Straßen, Schienen, in Logistikzentren wie in Offshore-Windparks. In Anbetracht der Mobilitätswende ist ein Umdenken sowohl klima- und energiepolitisch als auch aus wissenschaftlicher Sicht geboten.

Durch eine konsequente Auswertung von Realdaten können theoretische Labor-Erkenntnisse und -Modelle so erweitert werden, dass anwendungsbezogene Funktionsbetrachtungen möglich werden. Schon heute sind praktisch alle kommerziellen Batterieanwendungen vernetzt und übermitteln eine Fülle wertvoller Daten auf Server, wo sie oft mangels Auswertungssoftware ungenutzt bleiben. Wahr ist auch, dass es wirtschaftliche und datenschutzrechtliche Grenzen gibt – es gibt mutmaßlich schlankere Varianten, als zum Beispiel alle Pkw dahingehend zu vernetzen.  

Die Analyse von Felddaten hinsichtlich Verschleiß ist besonders herausfordernd. Ihre unregelmäßige, chaotische Natur im Gegensatz zu planbaren, kontrollierten Labortests stellt hohe Anforderungen an die Praxis. KI-basierte Verfahren, Mustererkennung und skalierbare Infrastruktur müssen mit elektrochemischer Batteriemodellierung verschränkt werden. Die Standardisierung und Gesetzgebung kann durch Vereinheitlichung von Datenübertragungsschnittstellen und von Bewertungskriterien den Rahmen schaffen.

Langsam entwickelt sich schon heute eine Flexibilisierung und Aufweichung der rigiden Betrachtungsweise bei den Wertschöpfungsteilnehmern. Entsprechend verlässlicher werden angestrebte Austauschzeiten, Systemkosten, Restwerte und gewährte Garantien planbar – zum Vorteil von Kunden und Herstellern. 

Ausblick

Gerade Europa sollte diesen ungenutzten Potenziale nicht unbeachtet lassen, sondern systematisch ausschöpfen. Dass es EU-weit im vergangenen Jahr mehr als doppelt so viele Neuzulassungen bei batterieelektrischen Pkw gab, macht Hoffnung. Der Markt für elektrische Stadtbusse verdoppelt sich gar jährlich. Die Breite der möglichen Anwendungen und die echte Kreislaufwirtschaft, die mit einem sinnvollen Lifecycle-Management und Tausch-/Recyclingkonzept möglichst ist, kann einen Wettbewerbsvorteil bedeuten. 

Auch kommt der Aufbau einer wettbewerbsfähigen und nachhaltigen Batterieindustrie in Europa voran. Getrieben durch die Industrie, getragen durch Initiativen wie der Europäische Batterieallianz (EBA) von EIT InnoEnergy. Die Binnenfertigung soll laut „Lithium-Ion Battery Megafactory Assessment“ (Februar 2020), bis 2024 die USA und Asien, China ausgenommen, gar überholen. 

Das befreit uns aber nicht vom nachhaltigen Umgang mit dem teuersten und verschlossensten Verschleißteil. Nun gilt es, mithilfe neuer Technologien die bisher unzureichende Bestimmung der tatsächlichen Nutzbarkeit von Batterien zu überwinden. Die technischen Möglichkeiten dafür sind vorhanden.

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