„Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ So heißt es in Artikel 5 des Grundgesetzes. Diese garantierte Wissenschaftsfreiheit entspringt unter anderem der Überzeugung, dass Forschung und wissenschaftlich gewonnene Erkenntnis für gesellschaftliche Weiterentwicklung fundamental und unabdingbar sind.
Allerdings ist diese Freiheit nicht grenzenlos und ins Belieben der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gestellt. Vielmehr setzt sie ein allgemein akzeptiertes Verständnis von wissenschaftlicher Betätigung voraus. Deren wichtigstes Prinzip ist Transparenz oder anders gesagt: die vollständige Nachvollziehbarkeit der einzelnen Schritte auf dem Weg zum Ergebnis.
In der aktivistischen Forschung wird eine Grenze dieses Verständnisses berührt oder vielleicht sogar überschritten. Wann und wie also dürfen, sollten oder müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich aktiv in die Veränderung der Gesellschaft einbringen?
Wissenschaft hat den Auftrag, die Gesellschaft zu informieren
Zur Beantwortung dieser Frage erscheint es hilfreich, Wissenschaft, das heißt vor allem die öffentlich geförderte Wissenschaft, als ein funktionales Subsystem der Gesellschaft zu betrachten. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass es nach der Eigenlogik von „Wahrheit“ oder der Suche danach handelt. Dabei ist Wahrheit ein öffentliches Gut, das die Gesellschaft als Ganzes offensichtlich nicht ohne Weiteres selbst erzeugen oder ermitteln kann. Dafür sind verschiedene Gründe anzunehmen. Zum Beispiel braucht Wahrheitssuche Zeit oder allgemeiner: mehr Ressourcen, als die Gesellschaft in ihrem kollektiven Alltag gemeinhin aufzubringen gewillt ist.
Die Ausgliederung eines funktionalen Teilsystems „Wissenschaft“ zur Wahrheitssuche beinhaltet also auch den Auftrag, die Gesellschaft zu informieren. Dazu wird mehr oder anderes als das schon in einer Gesellschaft vorhandene Wissen erarbeitet und neue Informationen zur Diskussion gestellt. Das Subsystem Wissenschaft hat seine Befunde mit der Gesellschaft zu teilen.
In einem ganz konventionellen Sinne arbeitet Wissenschaft ständig an der Erschütterung von etablierten Gewissheiten, auf denen eine Gesellschaft ihre Funktionszusammenhänge aufbaut. In diesem Sinne ist Wissenschaft potenziell auch immer unbequem und spröde. So kann es notwendig werden, nicht nur Befunde mitzuteilen, sondern auch über deren Anwendung oder sogar Umsetzung zu beraten.
Sollte Wissenschaft die sichere Erkenntnis haben, dass Gesellschaft handeln muss, um Schaden von sich abzuwenden, hat sie auch eine moralische Pflicht, eine bestimmte normative Position zu vertreten und sich gesellschaftspolitisch zu engagieren. Das durch Forschung gewonnene Wissen über die vom Menschen verursachten Veränderungen des Weltklimas ist dafür ein prominentes Beispiel.
Die fundamental zugesicherte inhaltliche Freiheit der Wissenschaft kann bezüglich der Transparenz und Qualitätskontrolle konsequenterweise nur durch die Wissenschaft selbst organisiert und umgesetzt werden. Die systemeigenen Ergebnisse laufend der Kritik durch Kolleginnen und Kollegen auszusetzen, Forschungsfragen kritisch zu betrachten und verantwortlich zu bewerten, ist ein Privileg des Systems Wissenschaft. Diese Selbstorganisation hat viele Effekte. Davon sei hier nur einer erwähnt, nämlich, dass Wissenschaft und ihre Disziplinen sich ihre eigenen Referenz- und Reputationssysteme schaffen.
Wie das Prinzip „Transparenz“ umgesetzt werden sollte
Betrachtet man nun die denkbaren Kontaktsituationen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Beratung von „Gesellschaft“, so ergeben sich aus der selbstgesteuerten Qualitätskontrolle zwei grundsätzlich unterscheidbare Situationen, in denen das Prinzip der Transparenz umgesetzt werden muss:
1. Redlichkeit gegenüber allen anderen im Beratungskontext
Die Qualitätskontrolle in der Beratung von Wissenschaft verlangt, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Standards guter wissenschaftlicher Praxis in die Situation des Wissensaustauschs, also die Beratungs- oder Transferpraxis übersetzen. Sie müssen ihre jeweilige Position, aus der heraus sie ihre Informationen gewonnen haben und in der sie beraten, offenlegen, und zwar bezüglich zum Beispiel:
- des Prozesscharakters der Herausbildung von Wissen und damit der Vorläufigkeit von Wissen;
- der Perspektiven und Interessenlagen, die sie in ihrer Forschung eingenommen haben;
- der ihnen zugänglichen und in ihrer Beobachtung berücksichtigten Quellen und Methoden – und der sich daraus ergebenden Grenzen ihrer Befunde.
Zu den Standards gehört auch, auf die Grenze zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und normativen Bewertungen hinzuweisen. Außerdem gilt es, die konkreten Kommunikationssituationen, in denen Forschende Beratung leisten, und deren jeweilige Eigenlogik zu berücksichtigen. Das kann beispielsweise durch Hinweise geschehen, ob sie sich gerade als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder als Personen der öffentlichen Aufmerksamkeit äußern. Eine Leitlinie für die gute Beratungspraxis hat beispielsweise die Leibniz-Gemeinschaft auf ihrer Mitgliederversammlung 2021 beschlossen.
Die Bedeutung von Beratung und Transfer macht deutlich, wie intensiv das Subsystem Wissenschaft mit der Gesellschaft kommuniziert – oder zumindest kommunizieren sollte. Gerade bei Beratungsprozessen mit gesellschaftspolitischer Bedeutung sind dialogische und interaktive Austauschformate eine Voraussetzung, um gesellschaftliche Teilhabe und politische Urteilsbildung zu fördern.
In diesem Zusammenhang wird die Forderung nach einem Open Science als einer prinzipiell geöffneten, für die gemeinsame Wissensproduktion offenen Wissenschaft laut. Sie wird als eine Art Gegenmodell zu dem gelegentlich immer noch vorgebrachten Vorwurf des „Elfenbeinturms“ positioniert.
2. Redlichkeit sich selbst gegenüber
Die oben erwähnte Eigenlogik von Kommunikationsformen gilt in besonderer Weise für Formate, in denen Information und Wissen in Co-Produktion mit Interessengruppen erzeugt werden. Dazu rechne ich auch aktivistische Kontexte mit transformatorischen Handlungszielen. Nach dem oben beschriebenen Verständnis von wissenschaftlicher Betätigung ist die normative Aufladung des eigenen Tuns problematisch. Das transferierte ebenso wie das gemeinsam erzeugte Wissen wird moralisch aufgeladen, weil es einem Zweck dienen soll, der bereits im Vorhinein als „das Gute“ feststeht.
In dieser Situation entsteht die besondere Herausforderung für Forschende, sich selbst in einer unbefangenen Art und Weise zu befragen, inwiefern hier die Grenze zwischen Forschung und normativer Interpretation überschritten ist. Die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis sehen eine solche Selbstbewertung nicht vor, da der Beobachtungsposition grundsätzlich ein Interessenkonflikt und Befangenheit unterstellt wird.
In dieser für kritische Wissenschaft typischen Situation scheint mir dringend die Diskussion geboten, wie engagierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Grenze ihrer Erkenntnisfähigkeit, in der Theoriebildung als „Blinde Flecken“ bezeichnet, so gut es geht umschreiben und offenlegen können. Anschließend wäre dann über die (nach wie vor politische) Frage „Auf welche verschiedenen Weisen ließe sich das Bessere erreichen?“ wieder eine wissenschaftliche Forschungsposition zu gewinnen. Diese Selbstreflexion ist, erst recht in Zeiten, in denen Wissenschaft mit dem Vorwurf konfrontiert wird, ideologisiert oder sogar „fake“ zu sein, für eine Verständigung über gesellschaftlich engagierte Wissenschaft enorm wichtig.
Prof. Sebastian Lentz stellt seinen Debattenbeitrag heute Abend beim Mobility Talk des Leibniz Netzwerks Mobilität vor, koordiniert durch das Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin.