In Freiburg forderte kürzlich ein Zusammenschluss von Baugenossenschaften und Wohnungsbauprojekten die Stadtverwaltung auf, in einem innerstädtischen Baugebiet auf den motorisierten Durchgangsverkehr zu verzichten. Die Stadtverwaltung lehnte das ab und begründete ihr Bestehen auf der Durchgangsstraße so: „Letztlich geht und ging es darum, den Zerfall des Stadtkörpers in eine Summe von nicht miteinander verknüpften 'Inseln' zu vermeiden.“ Es handelt sich um eine 400 mal 400 Meter große Fläche.
Ende 2020 stand im „Berliner Kurier“ die Überschrift: „Senatorin will Sperrung der Friedrichsstraße verlängern.“ Es handelte sich um die zeitliche Verlängerung eines Verkehrsversuchs, bei dem ein Abschnitt von einem halben Kilometer der Berliner Einkaufsstraße erstmalig den Fußgänger*innen zum Aufenthalt zur Verfügung gestellt und für die Radfahrenden erstmalig ein Radweg (der auch als Fahrspur für Rettungsfahrzeuge dient) geschaffen wurde.
Vor etwa einem Jahr las ich: „Radfahrerin prallt gegen Autotür und zieht sich schwere Kopfverletzungen zu.“ Diese Schlagzeile betrifft einen Vorfall in der Berliner Wilhelmstraße. Ein Autofahrer hatte ohne zu schauen seine Autotür geöffnet, die so direkt auf den Radweg ragte. Dadurch verletzte er eine Frau, die auf dem Radweg fuhr.
Das Auto als Ausgangspunkt
Was haben diese drei Äußerungen gemeinsam? Sie nehmen das Auto ganz selbstverständlich als Ausgangspunkt.
Wenn die Freiburger Stadtverwaltung „den Zerfall des Stadtkörpers in eine Summe von nicht miteinander verknüpften Inseln“ verhindern will, geht sie davon aus, dass motorisierter Durchfahrtsverkehr die einzige Art der Verknüpfung wäre. Stadtteile seien nicht miteinander verknüpft, wenn ein Mensch nicht mit einem Auto von einer Seite des Quartiers rein- und auf der anderen Seite rausfahren kann. Ohne Durchfahrtsstraße bleibe die Nachbarschaft eine „Insel“ und es drohe der Zerfall des „Stadtkörpers“.
Es reicht der Stadtverwaltung nicht, dass Menschen das Quartier zu Fuß oder mit einem Fahrrad binnen drei beziehungsweise acht Minuten durchkreuzen könnten. Es interessiert sie nicht, dass von Seoul bis Vancouver große Autoschneisen abgerissen werden, weil sie nach dortiger Wahrnehmung den „Stadtkörper“ nicht zusammenhalten, sondern seinen Zerfall verursachen. Und es hilft auch nicht, dass die Stadt Freiburg sich einiger Aufmerksamkeit erfreut, weil sie bereits vor 20 Jahren eine autoarme Siedlung entwickelte. Seitdem hat sie sich auf ihren Lorbeeren ausgeruht und sich wieder zum Auto hin orientiert.
Der sprachliche Clou hier liegt also in dem Sprachakt, der „nicht mit einem Kfz durchfahrbar“ mit „nicht miteinander verknüpft“ gleichsetzt. Dies ist nur möglich, weil wir in Deutschland und im deutschsprachigen Raum das Auto im Kopf haben. Das Auto ist die Norm und nur das, was von der Norm abweicht, bedarf einer Erklärung. Das steckt so tief in uns drin, dass wir unsere Freunde und uns selber regelmäßig mit einem Auto verwechseln. Wenn wir wissen wollen, wo jemand sein Auto abgestellt hat, sagen wir: „Ich stehe da drüben, wo stehst du?“ Wir meinen unsere Fahrzeuge, sagen aber „ich“ und „du“.
„Sperrung“ für Autos statt „Öffnung“ für alle anderen
In dem zweiten Fall, wo eine Verkehrssenatorin eine Sperrung verlängern wollte, verrät das Wörtchen „Sperrung“ das Auto im Kopf. Wenn wir nur eine einzige Aktivität (das Autofahren) unterbinden und dadurch vielfältige Aktivitäten ermöglichen, vom Verweilen über Handel und Begegnung bis hin zu Sport, Kunstausstellungen oder Erledigungen, kann nur dann von einer „Sperrung“ die Rede sein, wenn das Auto das Ausgangspunkt für unsere Wahrnehmung ist. Ich würde hier vielmehr von einer „Öffnung“ reden.
Unter dem Titel „Offene Straßen“ haben wir vom IASS mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, Politik und Verwaltung einige Prototypen entwickelt – unter anderem die Pop-up-Radwege – um den öffentlichen Raum zugänglich zu halten und sichere Mobilität zu gewährleisten. Das Ziel war, den Zugang für Menschen zum öffentlichen Raum zu sichern, bei gleichzeitiger Minimierung der Ansteckungsgefahr. Schnell stellten wir fest: Wenn der Straßenraum geöffnet bleiben soll, braucht es eine Umnutzung von Flächen, die sonst für alles außer den Autoverkehr gesperrt sind.
Bei dem dritten Beispiel handelt es sich um einen Bericht über Verkehrsgewalt. Hier wird der Verursacher sprachlich bevorteilt. In der Wilhelmstraße in Berlin, wo der Vorfall stattfand, gibt es einen Radweg, der in der Dooring-Zone liegt – dem Bereich, in den die Türen von abgestellten Autos hineinragen, sobald sie geöffnet werden. Das wird aber nicht im Artikel erwähnt:
„Die Frau war demnach mit ihrem Fahrrad gegen die Tür eines ordnungsgemäß geparkten Wagens am Fahrbahnrand der Wilhelmstraße gekracht, als der 43-jährige Autofahrer gerade aussteigen wollte. Die Frau, die auf dem Radstreifen unterwegs war, stürzte zu Boden.“
Verantwortung wird ungeschützten Verkehrsteilnehmern zugeschoben
Diese Schilderung nimmt das Opfer in den Fokus und weist dem Autofahrer eine passive Rolle zu, obwohl er es ist, der aktiv falsch und gefährlich handelt. Sie lässt keinen Raum dafür, die Schuld bei dem Autofahrer zu sehen, der nicht aufgepasst hat, als er seine Autotür öffnete. Noch legt sie die Idee nahe, dass die Infrastruktur und Verkehrsregeln solche Gefahren verursachen. Tatsächlich tun sie aber genau das.
Wissenschaftler*innen haben die Sprache der Berichterstattung zu Verkehrsgewalt in den USA unter die Lupe genommen. Sie haben festgestellt, dass die Verantwortung durch gängige Formulierungen den ungeschützten Verkehrsteilnehmer*innen zugeschoben wird, während Autofahrende dadurch geschont werden. Ein Blick auf die deutsche Berichterstattung zu Verkehrsgewalt deutet auf Ähnliches hin.
Eine weitere Studie zeigt, dass die Sprache nicht nur die Zuschreibung der Verantwortung für Verkehrsgewalt beeinflusst, sondern auch die Unterstützung für Infrastrukturmaßnahmen für sicheren Fußverkehr. So mag die autofokussierte Sprache dazu beigetragen haben, dass die Freiburger Stadtverwaltung in einer Einschränkung des motorisierten Durchgangsverkehrs einen „Zerfall des Stadtkörpers“ erkannte.
Dirk von Schneidemesser leitet zum heutigen Auftakt des Alternativgipfels „KonTra IAA – Kongress für transformative Mobilität“ in München einen Workshop zur richtigen Sprache für die Verkehrswende.