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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Verkehrsberuhigung und Spielstraßen: Wir brauchen kindgerechtere Städte für sichere Schulwege

Anika Meenken, Sprecherin für Radverkehr und Mobilitätsbildung beim VCD
Anika Meenken, Sprecherin für Radverkehr und Mobilitätsbildung beim VCD Foto: privat

Viele Eltern fürchten auf dem Schulweg um die Sicherheit ihrer Kinder – und bringen sie deshalb mit dem Auto. Das hat Folgen für ihre soziale, geistige und körperliche Entwicklung. Ein Plädoyer für kindgerechtere Städte und Quartiere.

von Anika Meenken

veröffentlicht am 28.08.2023

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Dieser Tage gehen in den meisten Bundesländern die Sommerferien zu Ende, die Einschulungen stehen an und die Eltern fragen sich: Wie kommt mein Kind sicher zur Schule? Denn Angst um die Sicherheit ist der häufigste Grund, Kinder mit dem Auto zu bringen – dem berüchtigten Elterntaxi. In einer repräsentativen Umfrage des Instituts Forsa für VCD und Kinderhilfswerk nannten 43 Prozent der fahrenden Eltern dieses Motiv.

Doch das Gefühl der Sicherheit im Elterntaxi trügt – Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass sich zwischen 2012 und 2021 44 Prozent aller tödlichen Unfälle mit Kindern ereigneten, als diese mit Erwachsenen im Auto unterwegs waren. Dennoch ziehen viele Eltern das Auto als vermeintlich sicherste Variante vor. Und gefährden dadurch ungewollt auch andere Kinder, die nicht im Auto sitzen. Besonders brenzlig wird es vor dem Schultor: In der VCD-Forsa-Umfrage gaben fast ein Fünftel der Grundschullehrkräfte an, dort mindestens einmal pro Woche eine gefährliche Situation zwischen Elterntaxis und Kindern zu erleben.

Das ist kein Wunder: Die Zahl der Autos hat in Deutschland mit 49 Millionen einen neuen Höchststand erreicht. Besonders Familien fahren viel – nur neun Prozent der Haushalte mit Kindern haben kein Auto, fast die Hälfte hat sogar zwei oder mehr. Während Kindern kaum noch Raum auf der Straße bleibt, um zu spielen, ohne in Gefahr zu geraten. Hier sind Familien gleichzeitig Mitverursacher und Leidtragende eines Systems, das abhängig macht vom eigenen Pkw.

Online-Befragung zu kindgerechter Mobilität

Viele leiden unter dieser Abhängigkeit, wünschen sich sichere und komfortable Fuß- und Radwege mit mehr Platz auf den Straßen. Dies zeigt eine aktuelle VCD-Befragung zum Thema Kindgerechte Mobilität im Wohnumfeld. 3.800 Menschen haben online daran teilgenommen, 74 Prozent sehen im Fehlen eines dichten Fuß- und Radwege-Netzes eines der größten Hindernisse für kindgerechte Mobilität. Auch deshalb sehen sich viele gezwungen, ihre Kinder mit dem Auto zu fahren.

Doch es gibt nicht nur zu viele Autos, sie sind auch zu schnell unterwegs – das finden 77 Prozent der Befragten. Hohes Tempo ist gefährlich, besonders für Kinder: je schneller ein Fahrzeug, desto länger sein Bremsweg und desto höher die Wucht bei einem Unfall. Verständlich also, dass viele Eltern ihre Kinder nicht allein auf Straßen lassen wollen, auf denen zu viel und zu schneller Verkehr herrscht.

Doch die Lösung ist nicht das Elterntaxi, sondern weniger Autos, die langsamer fahren. Dann können Kinder sicher und eigenständig mobil sein – auf dem Schulweg, aber auch zum Sportverein oder zu Freunden. Auch dort kommt bislang häufig das Elterntaxi zum Einsatz. Und selbst das Spielen vor der eigenen Haustür ist kaum noch möglich (auf der Straße ist es sogar per Gesetz verboten).   

Eigenständige Mobilität im Kampf gegen Bewegungsmangel

Kein Wunder also, dass Kinder sich immer weniger bewegen. 1976 liefen noch 92 Prozent zu Fuß zur Grundschule; 2018 wurden 43 Prozent im Auto gebracht. Die Folgen sind gravierend: Die sogenannte KiGGS-Studie des Robert Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (2017) verzeichnet große Probleme mit Übergewicht (jedes 5. Kind) und motorischen Schwierigkeiten. Allgemein ist die Fitness von Kindern in den letzten 15 Jahren um über 20 Prozent zurückgegangen. Dies hat Folgen für nahezu alle Aspekte der körperlichen und sogar der geistigen Gesundheit.

Eigenständige Mobilität und Spielen im Freien könnten hier helfen. Beides fördert die soziale, geistige und körperliche Entwicklung von Kindern, ihre Kreativität, ihre Raumwahrnehmung und ihr Gefühl für Entfernung, Zeit und Geschwindigkeit. Kinder, die selbstständig unterwegs sind, lernen besser, sich zu orientieren. Sie identifizieren sich stärker mit ihrem Umfeld, schließen leichter Freundschaften und bauen mehr Bindungen in der Nachbarschaft auf – anders als Kinder, die stets von Eltern oder Großeltern begleitet werden.

Kindgerechte Städte schaffen! Die Forderungen des VCD

Wie aber erreichen wir das Ziel von gesunden, selbstständigen und nachhaltig mobilen Kindern? Damit wieder mehr Eltern ihren Nachwuchs allein losziehen lassen, müssen Wohnumfeld und Verkehr kindgerechter werden. Zum Beispiel müsste Bundesverkehrsminister Wissing (FDP) den Kommunen endlich erlauben, Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit einzuführen. Das fordert neben dem VCD auch ein Bündnis von über 900 Städten und Gemeinden im ganzen Land.

Wir brauchen weniger Autoverkehr, dafür mehr Fuß- und Radwege, ein familienfreundliches Bus- und Bahnangebot und eine nachhaltige Mobilitätsbildung, die bereits im Kindergarten beginnt. Und nicht nur für Kinder – ein Umfeld mit wenig Verkehr ist auch für Erwachsene attraktiv, entlastet sie von Lärm, Schadstoffen und Stress.

Die Teilnehmer*innen der VCD-Umfrage bestätigen diese Forderungen: Ein besseres Fuß- und Radwegenetz wünschen sich über 80 Prozent, mehr Kontrollen von Falschparkern und Raserinnen 78 Prozent und Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit 77 Prozent. Verbreitet ist auch der Wunsch nach weniger Autos im Quartier, nach Verkehrsberuhigung und Spielstraßen: Knapp 80 Prozent der Befragten finden, dass der Fuß- und Radverkehr in ihrem Viertel Vorrang vor den Autos bekommen sollte. Ähnlich viele wünschen sich höhere Bußgelder und Strafen für Verkehrsvergehen und eine Reform der Straßenverkehrsordnung, die Bedürfnisse von Kindern stärker berücksichtigt.

Den Eltern Sicherheit geben

Die Befragung des VCD ist nicht repräsentativ. Doch die hohe Zahl von Antworten und die klaren Ergebnisse zeigen, wie sehr das Thema vielen Eltern unter den Nägeln brennt. Sie ahnen, dass etwas schiefläuft, und sie wollen weg von Elterntaxis und Rund-um-die-Uhr-Überwachung – sie trauen sich aber nicht, weil sie um die Sicherheit ihrer Kinder fürchten. Als VCD wollen wir diesen Eltern helfen: Wir wollen die Verhältnisse auf den Straßen so verändern, dass Kinder sich wieder allein im Freien bewegen und selbstständig mobil sein können. Ohne dass Ihre Eltern dabei Angst um sie haben.

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