Das Thema ist im Berliner Wahlkampf angekommen. Die CDU lässt plakatieren: „25 Prozent weniger Parkplätze? Nicht mit uns!“. Trotzig wird das Gewohnheitsrecht verteidigt, das private Auto im öffentlichen Raum abzustellen. Das war doch schließlich schon immer so. Die rhetorisch gemeinte Frage drängt sich auf: „Wozu zahle ich denn Kfz-Steuer und vielerorts auch noch Parkgebühren?“
Und überhaupt: „Wo sollen die Autos denn hin?“ In der Stadt können nicht jeder und jede eine Garage oder einen Carport ihr Eigen nennen. Es ist folglich anmaßend und vielfach unsozial, die sowieso schon zu wenigen öffentlichen Parkplätze abzubauen und die verbleibenden teurer zu machen.
So klingen die oft empört vorgetragenen Einwände und kritischen Fragen derjenigen, die sich bedrängt und bevormundet fühlen, weil eine scheinbare Selbstverständlichkeit zunehmend in Frage gestellt wird. Es wird tatsächlich immer weniger akzeptiert, dass der öffentliche Raum zum Lagerplatz für Fahrzeuge geworden ist. Allein in Berlin sind mehr als 1,3 Millionen Pkw zugelassen.
Jedes Jahr werden es mehr. Größer, schwerer und breiter sind sie auch noch. Die allermeisten davon stehen im öffentlichen Raum, fast immer am Straßenrand. Die Fläche der geparkten Berliner Autos entspricht dem Umfang des Tempelhofer Feldes. Übrigens ist es eine ziemlich träge Flotte geparkter Vehikel, denn im Durchschnitt werden die einzelnen Fahrzeuge nicht mehr als 50 Minuten am Tag bewegt.
Politisieren, was politisch ist
Dieses Stellplatzprivileg wollen mehr und mehr Städterinnen und Städter nicht mehr akzeptieren. So sammelte beispielsweise in Berlin die „Initiative Volksentscheid Berlin autofrei“ mehr als 50.000 Unterschriften für die Forderung, den Autoverkehr innerhalb des S-Bahnrings fast vollständig zu verbannen. In Hannover wurde ein grüner Bürgermeister mit einer Kampagne für eine autoarme Innenstadt gewählt. Damit reicht die Spanne der Positionen vom Beharren auf dem Status quo bei der CDU bis zum autofreien „Hundekopf“ bei den Volksentscheid-Aktivisten.
Dass die Diskussion um die Stellplätze für das Auto so an Fahrt gewonnen hat, ist überfällig. Es ist jetzt etwas politisiert, was auch politisch ist und nicht nur das Ergebnis individueller Entscheidungen zur Wahl des Verkehrsmittels. Da passt es, dass gerade das „Manifest der freien Straße“ als Buch erscheint.
Es ist entstanden aus einer Kooperation von Mobilitätsforscherinnen und Mobilitätsforscher am WZB, Stadtplanerinnen und Architekten von Paper Planes e.V. und Partizipationsforscherinnen und Partizipationsforscher von der TU Berlin. Gefördert wurde das interdisziplinäre Vorhaben von der Stiftung Mercator.
In einem bilderreichen Band steht die Straße im Mittelpunkt. Um sieben Thesen zur Straße herum werden Fakten präsentiert und eine Zukunft ohne die Allgegenwart des Autos in Bilder gefasst. Die Thesen sind knapp und zugespitzt:
- Erstens die Nachbarschaftsthese: „Die Straße ist unser Treffpunkt mit dem Fremden. Verändern wir Straße – verändern wir Gesellschaft.“
- Zweitens die Mobilitätsthese: „Die Nutzung des Stadtraums als Parkplatz ist ein fundamentales Missverständnis. Echte Freiheit beginnt jenseits unserer privaten Autos. Befreien wir uns von ihnen!“
- Drittens die Wirtschaftsthese: „Befreite Straßen sind Lebensadern des Fortschritts. Sie versorgen uns zuverlässig und schaffen neue Räume für Kreativität und Innovation.“
- Viertens die Gesundheitsthese: „Befreite Straßen sind charmante Einladungen. Auf ihnen sind alle Menschen sicher, gesund und gerne unterwegs.“
- Fünftens die Klimathese: „Befreite Straßen schützen unser Leben und das der kommenden Generationen. Mit ihnen lassen sich Extremwetterlagen besser bewältigen.“
- Sechstens die Politikthese: „Um Straßen zu befreien, braucht es politischen Willen. Konflikte müssen ausgehalten, Neues muss gewagt und manches auch wieder verworfen werden.“
- Und siebtens die Beteiligungsthese: „Um Straßen zu befreien, braucht es Pioniere. Wir alle können diesen Kulturwandel mitgestalten.“
Straßen sind mehr als nur Verkehrswege. Sie haben vielfältige Funktionen, als Ort der Begegnung, als Wirtschaftsraum und Raum für Bewegung und Sport sind sie ebenso fundamental wie für den Zweck, sich sicher, schnell und zu leistbaren Kosten von A nach B zu bewegen. Die Bewertung der verschiedenen Dimensionen unterscheidet sich historisch erheblich, künftig wird die Klimafrage auch für die Straße wichtiger denn je.
Hitzeinseln und Starkregen lassen sich in der Stadt nur bewältigen, wenn es mehr Grün gibt und Wasser versickern bzw. auch zurückgehalten werden kann. Das geht nur mit viel weniger versiegelten Straßen- und Stellplatzflächen.
Es braucht engagierte Bürgerinnen und Bürger
In der Corona-Pandemie haben wir gemerkt, wie bedeutsam der Nahraum um unsere Wohnungen herum ist. Lange kaum wahrgenommene Straßen und Plätze vor der Tür und um die Ecke haben wir oftmals neu „entdeckt“, als uns Lockdowns und vermeintlich unsichere öffentliche Verkehrsmittel veranlasst haben, gewohnte lange Wege zu vermeiden.
Befreite Straßen fallen nicht vom Himmel, sie erfordern ihren aktiven Umbau und eine offene Neugestaltung. Dafür gibt es keinen Masterplan. Jeder Umbau und jede Neugestaltung ist mit Auseinandersetzungen verbunden, sie lassen sich nicht vermeiden. Es braucht engagierte Bürgerinnen und Bürger, es braucht ebenso einen offenen Streit der Interessen und es braucht auch die Bereitschaft zu trial and error.
Hilfreich kann es zudem sein, anderswo hinzuschauen, wie es dort gemacht wurde. Schließlich braucht es Bilder eines gelungenen Umbaus. Denn es ist schwer, sich eine Welt jenseits der gewohnten Wirklichkeit überhaupt vorzustellen.
Die Zauberworte der verkehrspolitischen Verheißungen kennen wir: Flächengerechtigkeit, angemessenes Tempo, Erreichbarkeit für alle und soziale Teilhabe, Aufenthaltsqualität und Sicherheit für Kinder und Alte, bezahlbare Mobilität und nicht zuletzt Klimaresilienz. Im „Manifest der freien Straße“ werden Hinweise darauf gegeben, diese Ziele zu erreichen. Auch wenn sicherlich noch Fragen offenbleiben: Das Manifest macht deutlich, warum Straßen zu befreien für alle eine Chance ist.