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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Mehr politischer Mut ist gefragt

Roland Keil, Managing Partner und Leiter Marktsektor Travel, Transport & Logistik des Beratungsunternehmens Detecon International
Roland Keil, Managing Partner und Leiter Marktsektor Travel, Transport & Logistik des Beratungsunternehmens Detecon International Foto: promo

Mobilität bildet in unserer Gesellschaft die Grundlage für Wertschöpfung und Wohlstand – und sie steht vor großen Veränderungen. Auf die unterschiedlichen Akteure im Verkehrswesen kommen große Herausforderungen zu. Die Politik muss den Anstoß geben.

von Roland Keil

veröffentlicht am 08.12.2023

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Nachhaltigkeit ist zu einem zentralen Treiber moderner Mobilität geworden. Der Bund Deutscher Unternehmensberater (BDU) stellt in seinem Whitepaper „Mobilität gemeinsam nachhaltig gestalten“ fest, dass das weniger auf ein bestimmtes Ereignis zurückzuführen ist, sondern vielmehr auf eine Vielzahl sich gegenseitig beeinflussender Faktoren. Diese müssen zukünftig in die Verkehrsplanung einfließen, um gleichermaßen krisenresiliente und bedarfsorientierte Angebote zu entwickeln.

Zwar hat sich die Mobilität im öffentlichen Raum in der jüngeren Vergangenheit bereits diversifiziert, etwa durch Ride-Sharing-Angebote, doch der Pkw bleibt mit einem Anteil von 87 Prozent am gesamten Verkehrsgeschehen („Modal Split“) das mit Abstand meistgenutzte Verkehrsmittel in Deutschland.

Nun gilt es, die verschiedenen Interessen und Akteure so zu koordinieren, dass Umweltbelastung und Abhängigkeit von externen Akteuren sinkt – und gleichzeitig die Ansprüche der Nutzer*innen zu erfüllen. Dazu ist es notwendig, ökologische, politische, soziale und technologische Trends und Maßnahmen in Einklang zu bringen.

Wir brauchen eine ganzheitliche Denkweise

Eine zentrale Herausforderung besteht darin, die unterschiedlichen Interessen innerhalb des Mobilitätssystems so zu orchestrieren, dass eine ganzheitliche Lösung entsteht. Im Mittelpunkt stehen die Kriterien (gefühlte) Sicherheit, Bequemlichkeit und Komfort, aber auch Zeitaufwand und Preis.

Diese Kriterien für ein ganzheitliches Verkehrsangebot verkehrsträgerübergreifend zu bewerten, ist eine zentrale Herausforderung. Nutzer*innen treffen ihre Entscheidung für ein Reisemittel in der Regel eher emotional als rational. Nachhaltige Lösungen müssen daher von ihnen als mindestens so gut wahrgenommen werden wie das bisher bevorzugte Verkehrsmittel.

Wie können angesichts gegensätzlicher Interessen ganzheitliche und nachhaltige Mobilitätslösungen in der Umsetzung aussehen? Sie sollten folgende Merkmale erfüllen:

Nutzerzentrierung durch Vereinfachung

Die Nutzer*innen müssen im Fokus jeglicher Planung stehen. Insellösungen und komplexe Tarifgeflechte wie im ÖPNV schrecken Reisende ab. Eine Vereinheitlichung über Verkehrsverbünde hinweg macht die Nutzung auch innerhalb eines Verbundes deutlich interessanter – das zeigen die Erfahrungen mit dem Deutschlandticket. Für attraktive ÖPNV-Angebote lassen selbst „überzeugte“ Autofahrer*innen im ländlichen Raum ihr Fahrzeug stehen, wie kürzlich eine Studie des Landes Nordrhein-Westfalen zeigte.

Alle Verkehrsmittel mitdenken

Parkraum ist insbesondere in Innenstädten ein rares Gut. Anstatt verzweifelt mehr davon schaffen zu wollen, hilft nur ein Umdenken. Mobilitätsstationen anstelle klassischer Parkplätze können ÖPVN, Car- & Ridesharing, Scooter, Lastenräder oder (E-)Bikes miteinander verbinden. Den Modal Split weg vom motorisierten Individualverkehr (MIV) hin zu kombinierten Verkehrsangeboten zu verschieben, führt insbesondere in urbanen Räumen zu einem besseren Verkehrsfluss. Im ländlichen Raum dagegen wird auch weiterhin der MIV eine dominierende Rolle im Modal Split einnehmen. Daher sind alle Anspruchsgruppen gut beraten, verstärkt auf vernetzte, multimodale Lösungen zu setzen.

Dynamisches Kapazitätsmanagement

Anstatt Straßen immer weiter auszubauen, können digitale Technologien helfen, den Verkehrsfluss vorausschauender zu steuern. Gestützt durch den neuen Mobilfunkstandard 5G können Daten nahezu in Echtzeit ausgetauscht werden. Zudem wird autonomes Fahren durch teilautomatisierte Taxis, Klein- und Omnibusse die Mobilität verbessern und gleichzeitig dem Fahrermangel entgegenwirken. Ein vollumfänglich autonomer Individualverkehr ist dagegen in den nächsten zehn Jahren nicht zu erwarten.

Was für den Parkraum gilt, lässt sich auf die gesamte Verkehrsfläche einer Stadt oder eines Landes übertragen. Statt den im internationalen Vergleich hohen Anteil der Verkehrsfläche in Deutschland von fünf Prozent durch neue Straßen weiter zu erhöhen, ist es sinnvoller, die vorhandenen Kapazitäten durch den Einsatz von Technologien effektiver und effizienter zu nutzen.

Viele dieser Maßnahmen können nur im Zusammenwirken von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft umgesetzt werden. Wegweisend sind ganzheitliche Strategien, die ökonomische, ökologische und soziale Aspekte berücksichtigen. Dabei bestimmen drei Faktoren über deren Erfolg:

Nachhaltiges Denken und kulturelles Mindset

Nachhaltige Mobilität bedeutet mehr als nur die Emissionen der Verkehrsmittel zu reduzieren. Es geht vielmehr darum, das Mobilitätsverhalten zu ändern und den Verkehr insgesamt einzugrenzen. Der nimmt laut Umweltbundesamt seit 1960 kontinuierlich zu. Wenn es darauf ankommt, entscheiden die Reisenden sich zugunsten von Bequemlichkeit, Zeiteffizienz und Bezahlbarkeit. Deshalb müssen politische Rahmenbedingungen für eine nachhaltigere Mobilität geschaffen werden: wirtschaftliche Anreize sowie ein verbindliches Ge- und Verbotssystem. Es gilt, Maßnahmen zu entwickeln, um das Bewusstsein für umweltschädliche Emissionen der verschiedenen Verkehrsmittel zu schärfen.

Digitale Transformation und datenbasiertes Vorgehen

Verkehrsunternehmen müssen sowohl ihre Geschäftsmodelle als auch ihre Produktionssysteme auf die systematische Erzeugung und Verwendung von Daten ausrichten. Ohne qualitativ hochwertige und umfassende Daten können sie künftig keine ausreichend fundierten Entscheidungen treffen. Doch das allein reicht in einem vernetzten Marktsektor wie dem Verkehrssektor nicht aus. Es gilt auch zu klären, wie der unternehmensübergreifend Datenaustausch zu regeln ist. Dazu gehören neben den Produktionsdaten der Verkehrsunternehmen auch Nutzerdaten der Reisenden und für den Verkehr wichtige öffentliche Informationen über die Verkehrslage oder das Wetter.

Intelligente Infrastruktur und technologische Reife

Voraussetzung für diesen Datenaustausch sind souveräne Data-Exchange-Plattformen. Regionale Datenräume sind ein Anfang. Wirkmächtiger sind jedoch branchenweite Ökosysteme wie Catena-X für die Automobilindustrie oder der European Railway Data Space für den Austausch von Sensordaten in der Bahnindustrie. Diese Plattformen schaffen zwangsläufig eine zunehmende Datenzentriertheit der Industrie, wenn sie angenommen werden.

Was bringt die nahe Zukunft?

Vertikal und/oder horizontal ausgerichtete Business-Ökosysteme sind ein wichtiges Werkzeug, um nachhaltige und zukunftsfähige Mobilität zu ermöglichen. Für deren Initiierung bedarf es in der Regel eines Anstoßes durch die Politik. Diesen kann das EU-Datengesetz („Data Act“) darstellen. Dieses wird ab 2024 den Austausch von Daten in der Wertschöpfungskette massiv fordern und fördern. Es wird auch dazu beitragen, mehr Daten im Einklang mit EU-Vorschriften und -Werten zur Verfügung zu stellen.

Für eine nachhaltige Mobilitätswende braucht es hierzulande mehr politischen Mut zu Veränderung und einzelnen schmerzhaften Entscheidungen. Dafür ist ein Denken vom Ende her nötig: Was ist der Zielzustand und wie können wir ihn erreichen? Um wirklich etwas zu bewegen, ist vor allem eines gefragt: die Bequemlichkeit zu überwinden und Verantwortung für das eigene Mobilitätsverhalten zu übernehmen.

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