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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Raus aus dem Schlamassel

Jörn Richert, Geschäftsführer des Mobility Institute Berlin
Jörn Richert, Geschäftsführer des Mobility Institute Berlin Foto: Mobility Institute Berlin

Berlin braucht einen Neuanfang in der Verkehrspolitik. Um Mobilität in der Metropole zukunftsfähig zu machen, muss die künftige Regierung die Potenziale des öffentlichen Verkehrs konsequent umsetzen.

von Jörn Richert

veröffentlicht am 06.03.2023

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Die Stimmung auf den Berliner Straßen ist angespannt. Die autofreie Friedrichstraße ist wohl der sichtbarste, bei weitem aber nicht der einzige Streitpunkt beim Thema Mobilität. Auch bei der Zukunft der A100, bei Kiezblocks oder der Einrichtung neuer Fahrradwege wird heftig diskutiert. In einer Umfrage kurz vor der Berliner Wiederholungswahl vom 12. Februar 2023 bezeichneten so auch 29 Prozent der Berliner:innen das Thema „Verkehr“ als eines der dringendsten Probleme Berlins.

Für die zukünftige Berliner Regierung bedeutet das viel Arbeit. Nicht nur sind Verkehr und Mobilität weiterhin die Problemkinder des Klimaschutzes, gleichzeitig treiben diese Themen Risse durch die Stadtgesellschaft. Auf der einen Seite stehen jene Menschen, die für ein nachhaltiges, grünes, aktives Berlin kämpfen, das ausreichend Raum für Fußgänger:innen und Fahrräder bietet. Auf der anderen Seite diejenigen, die auf das Auto angewiesen sind oder einfach nicht darauf verzichten wollen.

Auch politisch herrscht wenig Einigkeit. Zwar steht keine der beiden Parteien, die nun mit den Koalitionsverhandlungen beginnen, im Verdacht, eine „autofeindliche Ideologie“ zu vertreten. Dennoch gehört zur Realität Berlins seit neuestem auch der „politische Donut“: Bei den Zweitstimmen zur Abgeordnetenhauswahl färbten sich die meisten Wahlbezirke am Rande Berlins schwarz. 

Auch im Bezirk Mitte 2 war die CDU die stärkste Kraft. Um diesen Bezirk herum erstreckt sich jedoch ein Ring aus grün. Hier gibt es viel Sympathie für jene verkehrspolitischen Maßnahmen, die den einen oder die andere Autofahrer:in auf die sprichwörtliche Palme bringen. Auch in Zukunft werden also verschiedenste Mobilitätsbedürfnisse und Vorlieben auf die Notwendigkeit treffen, trotz aller Befindlichkeiten mit dem Klimaschutz voranzukommen. Was kann und sollte eine neue Regierung tun in dieser spannungsgeladenen Stadt?

Mit Gemeinsamkeiten beginnen: Die Potenziale des öffentlichen Verkehrs in Berlin müssen konsequent umgesetzt werden.

ÖPNV nur halb so schnell wie das Auto

Eine herausragende Rolle wird der ÖPNV spielen, den sowohl CDU als auch SPD stärken wollen. Der Anteil des ÖPNV am Modal Split stagniert seit Jahren. Während andere europäische Metropolen wie Paris, Barcelona oder Madrid den öffentlichen Verkehr konsequent ausgebaut haben, hinkt Berlin mittlerweile hinterher. So zeigt eine Studie des Mobility Institute Berlin, dass der ÖPNV in der Hauptstadt im Schnitt nur halb so schnell ist wie das Auto (vgl. hier). Hinzu kommen unkoordinierte Streckensperrungen, Fahrtausfälle und überfüllte oder schmutzige Züge, die so manche Fahrt mit Bus und Bahn zum Ärgernis machen.

Kurzfristig sollte die neue Regierung daher zweierlei Dinge anpacken: Erstens, mehr Sicherheit und Sauberkeit im ÖPNV. Die Corona-Pandemie hat das Vertrauen vieler Menschen in den ÖPNV untergraben und viele derjenigen, die heute noch das Auto bevorzugen, haben bei öffentlichen Verkehrsmitteln ein mulmiges Gefühl. Um Menschen wieder oder erstmals vom ÖPNV zu überzeugen, muss das Reisen mit Bus und Bahn deutlich angenehmer gestaltet werden.

Zweitens geht es darum, die bestehenden Angebote konsequent verlässlicher zu machen und zu beschleunigen. Die Werkzeuge liegen auf der Hand: Eine bessere Koordination von Bauarbeiten im ÖPNV und auf der Straße, eine Bevorzugung des ÖPNV bei der Einrichtung von Baustellen und deren Umgehung, eine konsequente Nutzung der vorhandenen Vorrangschaltungen an Ampeln und die Einrichtung von Busspuren, vor allem an besonders verspätungsanfälligen Punkten.

Ambitioniertere Pläne für die Anbindung Brandenburgs

Damit kann aber nicht Schluss sein. Sowohl in der Stadt als auch für die Verkehrsbeziehungen von und nach Brandenburg muss sehr viel ambitionierter als bisher gedacht und geplant werden. CDU und SPD geben wichtige Anstöße und müssen nun handeln: In der Stadt geht es um einen flächendeckenden (Mindest-)Takt von zehn Minuten, auch in Außenbereichen, mehr Kapazität auf stark ausgelasteten Strecken, ein Lückenschluss-Programm die für S-, U- und Straßenbahn und um neue Expressbuslinien. 

Bei den Verkehrsbeziehungen mit Brandenburg geht es darum, durch Investitionen in vorhandene Infrastruktur die Zuverlässigkeit des ÖPNV zu steigern. Darüber hinaus müssen den Bekenntnissen zu den Ausbauplänen des Projektes i2030 nun Taten folgen. Schließlich braucht es mehr und besser abgestimmte Buszubringer zum Regionalverkehr sowie einen ambitionierten Ausbau intermodaler Angebote, zum Beispiel im Bereich Bike & Ride.

Sollte eine mögliche Berliner GroKo dieses Programm schnell und konsequent angehen, so kann der ÖPNV zur zentralen Stütze der Mobilitätswende und zum Zukunftsprojekt der nächsten Berliner Regierung werden. Das Zukunftsprojekt ÖPNV kann jedoch nicht isoliert stehen. Darüber hinaus braucht Berlin eine ganzheitliche Vision für die Mobilitätswende, die die Stadtgesellschaft mitnimmt.

Raus aus den Extrempositionen, hin zum geteilten Zukunftsbild: Berlin braucht eine wirkliche Vision für die Mobilität von morgen.

Eine Mobilitätsvision für alle

Hand aufs Herz, kennen Sie den „Stadtentwicklungsplan Mobilität und Verkehr. Berlin 2030“ oder die darin formulierte Vision? Als Planwerk mag das Dokument seinen Dienst tun. Dennoch es hat wenig Wirkung auf die Mobilitäts-Kontroversen der Hauptstadt: In der breiteren Öffentlichkeit fehlt ein gemeinsames Verständnis davon, wie sich die Berliner:innen in Zukunft klimaneutral durch die Stadt bewegen werden. Diese Situation führt zu Polarisierung und Stillstand. Städte wie Paris, Kopenhagen, Amsterdam oder auch Zürich zeigen hingegen, wie Mobilität zu einem integrierenden Element für die städtische Gesellschaft werden kann.

Auch Berlin muss endlich weg von den Extrempositionen und hin zu einem geteilten Zukunftsbild. Doch wie kann das gelingen? Der erste Schritt lautet: Erschaffe eine ambitionierte Geschichte, die Menschen in den Mittelpunkt stellt. Berlin braucht eine attraktive Mobilitätsvision, die die Menschen kennen, verstehen und auf die es sich hinzuarbeiten lohnt. Diese Vision muss Berlin aus sich selbst heraus entwickeln. Dafür müssen die richtigen Stakeholder zum richtigen Zeitpunkt eingebunden und Bürger:innen aktiv beteiligt werden. 

Dies ist keine einfache Aufgabe. Sie verlangt nach einem Ende der Ideologievorwürfe, nach offenem Dialog und Zuhören, nach der Betonung von Gemeinsamkeiten statt Unterschieden, nach differenzierter, faktenbasierter Diskussion und wirksamer, wertschätzender Kommunikation. Doch all dies ist den Aufwand wert: Als Orientierungspunkt kann eine gemeinsame Vision Kontroversen auflösen und entschärfen, denn sie erlaubt die Frage „Führt uns das wirklich in die Zukunft die wir gemeinsam als Ziel definiert haben?“. 

Für die städtische Planung stellt sie Prioritäten klar und sorgt so dafür, dass Geld und auch Zeit in die richtigen Projekte investiert werden. So wird eine gemeinsam erarbeitete Vision zum Katalysator für die Mobilitätswende in Berlin und für mehr Miteinander auf den Straßen der Stadt.

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