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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Welche Hürden das EU-Klimaschutzpaket 2022 im Verkehr nehmen muss

Simone Tagliapietra, Senior Fellow beim Brüsseler Think-Tank Bruegel
Simone Tagliapietra, Senior Fellow beim Brüsseler Think-Tank Bruegel

2022 wird das EU-Klimaschutzpaket im Europäischen Rat und im Parlament verhandelt. Simone Tagliapietra vom Brüsseler Think-Tank Bruegel erwartet kontroverse Debatten, vor allem über den im Paket enthaltenen neuen Emissionshandel im Verkehr. Weniger strittig sieht er den geplanten Verbrenner-Ausstieg bis 2035.

von Simone Tagliapietra

veröffentlicht am 03.01.2022

aktualisiert am 28.12.2022

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Im vergangenen Jahr unternahm die Europäische Kommission einen wichtigen Schritt, um ihren Europäischen Green Deal von einer Vision in politisches Handeln zu übersetzen: Sie stellte das „FitFor55“-Paket vor. Die darin enthaltenen politischen Vorschläge zahlen auf das Ziel ein, die 2020er Jahre zu einem Jahrzehnt tiefgreifender Veränderungen zu machen und letztendlich das EU-Ziel von mindestens 55 Prozent weniger Treibhausgasemissionen bis 2030 im Vergleich zu 1990 zu erreichen.

Stimmen das Europäische Parlament und der Europäische Rat zu, hat „FitFor55" das Potenzial, die Dekarbonisierung der europäischen Wirtschaft sowohl zu vertiefen als auch auszuweiten, um bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen.

Eine schnellere Dekarbonisierung des Verkehrs zählt zu den Hauptzielen des Pakets. Die Senkung der Emissionen in diesem Sektor ist von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, die EU-Klimaziele zu erreichen. Der Verkehrssektor ist noch immer für 22 Prozent der EU-Emissionen verantwortlich. Wichtige Fortschritte in diesem Bereich sollten schon in diesem Jahrzehnt erreicht werden, um unrealistisch schnelle Anforderungen und Anpassungen zwischen 2030 und 2050 zu vermeiden.

CO2-Preise, Steuern und CO2-Emissionsstandards

Das Paket setzt für die Dekarbonisierung des Verkehrssektors einen Rahmen, der einen Mix aus politischen Instrumenten wie CO2-Preisen, Steuern und CO2-Emissionsstandards für neue Autos umfasst. Eine der wichtigsten Neuerungen ist die Einführung eines eigenständigen Emissionshandelssystems für Gebäude und Straßenverkehr, das im Jahr 2026 in Kraft treten soll. Das System würde sich nur indirekt auf die Bürger auswirken, da die Regulierung für diejenigen verbindlich wäre, die in der Lieferkette weiter oben stehen. Ein solches System lässt sich technisch und administrativ leichter umsetzen.

Doch egal, ob direkt oder indirekt – letztlich spüren die Bürger ein ETS im Verkehr durch höhere Kraftstoffpreise. Diese Weitergabe der Dekarbonisierungskosten an Familien und kleine und mittlere Unternehmen ist politisch heikel. Wahrscheinlich wird sie im Mittelpunkt der harten Verhandlungen zwischen dem Europäischen Parlament und den EU-Ländern stehen, die die Pläne gemeinsam verabschieden müssen.

Das „FitFor55"-Paket erkennt die unvermeidlichen sozialen Auswirkungen der Maßnahmen an. Die Kommission schlägt daher vor, 25 Prozent der Einnahmen aus dem neuen Emissionshandelssystem in einen sozialen Klimafonds zu leiten. Dieser soll bei sozial schwachen Familien und kleinen Unternehmen die Akzeptanz für klimafreundliche Autos fördern, vorübergehende Pauschalzahlungen an sozial schwache Haushalte leisten und so den Anstieg der Kraftstoffpreise im Straßenverkehr ausgleichen. Wie beim Just Transition Fund oder der Next Generation EU sollen die EU-Länder dafür ihre eigenen Klimaschutz-Sozialpläne aufstellen und dann finanzielle Unterstützung aus dem Fonds beantragen können. Wie viel Geld ausgezahlt wird, ist daran geknüpft, ob die Staaten zuvor festgelegte Ziele erreichen.

Dieses Instrument könnte jedoch immer noch unzureichend sein, um die Schwächsten vor den Folgen der Maßnahmen zu schützen. In den politischen Verhandlungen über das Paket werden voraussichtlich einige Fraktionen im Europäischen Parlament und einige EU-Länder argumentieren, dass eine Mischung aus stärkeren Anreizen zur Einführung neuer Elektrofahrzeuge und strengere Umweltstandards für Autos besser geeignet sind. Und natürlich könnten einige EU-Länder fordern, dass die Einnahmen aus dem neuen Emissionshandelssystem für Gebäude und Straßenverkehr vollständig auf nationaler Ebene verwendet werden sollten, statt sie in einen EU-weiten sozialen Klimafonds zu lenken. Dies werden wichtige Verhandlungspunkte im Jahr 2022 sein.

Ringen um Steuerreformen erwartet

Die derzeitige EU-Energiesteuerrichtlinie aus dem Jahr 2003 schafft Anreize für die Nutzung fossiler Brennstoffe und nicht für sauberere Alternativen. Weil dieser politische Rahmen sehr sensibel ist und sich die EU-Länder einstimmig auf steuerliche Maßnahmen einigen müssen, sind frühere Reformversuche stets gescheitert.

Mit „FitFor55“ schlägt die Kommission eine Überarbeitung vor. Sie beruht auf dem Grundsatz, dass die Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom sowohl auf ihrem Energiegehalt als auch auf ihrer Umweltverträglichkeit basieren sollte. Auch sollten unterschiedliche Mindeststeuerbeträge für Kraftstoffe, Heizstoffe und elektrischen Strom zulässig sein, um klimafreundlichere Entscheidungen zu fördern.

Ein EU-weiter Mindeststeuersatz würde insbesondere klimaschädliche Flugkraftstoffe mit Ausnahme von reinen Frachtflügen sowie klimaschädliche Boots- und Schiffskraftstoffe, einschließlich Fischereischiffe, treffen. Diese Mindeststeuersätze sollen über einen Zeitraum von zehn Jahren, beginnend im Jahr 2023, eingeführt werden.

Das Paket sieht auch die Möglichkeit vor, Strom und Wasserstoff aus erneuerbaren Energiequellen sowie fortschrittliche Biokraftstoffe und Biogase von Steuern zu befreien – ebenfalls mit dem Ziel, umweltfreundlichere Energiequellen zu fördern.

Dieser Vorschlag wird Kontroversen auslösen, vor allem, weil einige Länder die Maßnahme wahrscheinlich als Eingriff in ihre Souveränität betrachten werden. Das war bereits in der Vergangenheit der Fall. Im Jahr 2022 ist mit einer heftigen Debatte über dieses Thema zu rechnen, wobei die einzelnen EU-Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Ansichten vertreten werden.

Aus für Verbrenner 2035 nahezu sicher

Was die Verringerung der CO2-Emissionen von Neuwagen und neuen leichten Nutzfahrzeugen angeht, so enthält das Paket ein wichtiges Ziel: Die CO2-Emissionen von Fahrzeugen sollen bis 2030 um 55 und bis 2035 um 100 Prozent gesenkt werden – mit dem wichtigen Vorbehalt, dass das Ziel auf 2040 verschoben werden kann, wenn die Hersteller Schwierigkeiten haben, es zu erreichen. Wird das Ziel für 2035 erreicht, entspricht dies einem Verkaufsverbot für Neuwagen mit Verbrennungsmotor in 14 Jahren.

Das soll den Herstellern genügend Zeit einräumen, um die Umstellung ihrer Flotten auf Strom zu planen (oder zu beschleunigen) und gleichzeitig die vollständige Dekarbonisierung des Straßenverkehrs bis 2050 sicherstellen. Da die durchschnittliche Lebensdauer eines Autos etwa 15 Jahre beträgt, wird die vollständige Umstellung des europäischen Fahrzeugbestands zwischen 2035 und 2050 erfolgen ein Zeitraum, in dem Elektroautos für alle erschwinglich werden.

Dieser Vorschlag, der bis vor kurzem politisch kaum vorstellbar war, wird wahrscheinlich ohne größere Turbulenzen angenommen werden. Ja, einige EU-Länder und Fraktionen im Europäischen Parlament wünschen sich einen schnelleren Übergang, während andere eine langsamere Veränderung bevorzugen. Letztendlich könnte dies jedoch für alle akzeptabel sein. Mehrerer europäische Automobilhersteller planen bereits, sich bis 2030 von herkömmlichen Antrieben zu verabschieden.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Mit ihrem Klima-Paket ist die EU die erste große Volkswirtschaft der Welt, die anfängt, das Ziel der Klimaneutralität in konkrete Maßnahmen umzusetzen. In einigen sensiblen Bereichen, wie der Schaffung eines neuen Emissionshandelssystems zur Dekarbonisierung des Straßenverkehrs oder der Einführung einer Auslauffrist für Autos mit Verbrennungsmotoren bis 2035, wird die Herausforderung darin bestehen, die politischen Verhandlungen im Europäischen Parlament und im Europäischen Rat ohne wesentliche Verwässerung der Vorschläge zu überstehen.

Der Grundsatz der Klimagerechtigkeit sollte diese Verhandlungen im Jahr 2022 leiten. „FitFor55“ treibt die Dekarbonisierung der EU voran und markiert den sichtbaren Einzug der Klimapolitik in den Alltag aller europäischen Bürger und Unternehmen und hat auch erste Auswirkungen auf globale Handelspartner. Die Gewährleistung eines sozial gerechten Übergangs, sowohl im Inland als auch auf internationaler Ebene, ist das wichtigste Element für einen langfristigen Erfolg.

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