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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Wie der Fußverkehr sicher wird

Jürgen Gerlach, Professor für Verkehrsplanung und -Technik, Bergische Universität Wuppertal
Jürgen Gerlach, Professor für Verkehrsplanung und -Technik, Bergische Universität Wuppertal

In Deutschland sterben immer noch viel zu viele Zufußgehende im Straßenverkehr, vor allem beim Überqueren der Fahrbahn. Städte wie Kopenhagen, Helsinki und Oslo zeigen, das es auch anders geht. Die wichtigsten Erfolgsrezepte: Runter vom Tempo und eine Verlagerung von Parkplätzen in Parkhäuser, Tiefgaragen und Quartiersgaragen.

von Jürgen Gerlach

veröffentlicht am 09.03.2021

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Im städtischen Verkehrsgeschehen ist die Zahl der Verkehrsunfälle mit Personenschaden besonders hoch. In den letzten Jahren wurden pro Jahr mehr als 30.000 verletzte Zufußgehende polizeilich registriert, wobei davon auszugehen ist, dass die tatsächlichen Unfallzahlen aufgrund von Dunkelziffern weitaus höher sind. Mehr als 7000 Zufußgehende wurden nachweislich schwer verletzt – im Jahr 2019 kamen 417 Zufußgehende zu Tode. Kinder und ältere Menschen sind besonders gefährdet und verunglücken insbesondere beim Überschreiten der Fahrbahn. Mehr als jeder zweite getötete Zufußgehende ist älter als 64.

Das innerörtliche Verkehrsgeschehen ist sehr komplex und überfordert uns teilweise, so dass schon ein Moment der Unachtsamkeit fatale Folgen haben kann. Das muss nicht so sein und liegt auch daran, dass die Bedeutung des Fußverkehrs in Gesellschaft, Politik, Planung und Straßengestaltung in der Vergangenheit weit unterschätzt wurde und teils als „Randgröße“ unberücksichtigt blieb.

Pro Kilometer zurückgelegtem Weg werden im Vergleich zu Autofahrenden derzeit in etwa fünf Mal so viele Zufußgehende bei Verkehrsunfällen getötet (4,5 Personen im Vergleich zu 0,8 Personen im Jahr 2019 je eine Million Kilometer tägliche Verkehrsleistung), schwer verletzt (72,3 im Vergleich zu 16,7) oder leicht verletzt (248,4 im Vergleich zu 86,2). Gelingt es also zukünftig, im Rahmen der angestrebten „Mobilitätswende“ kurze Wege, die derzeit noch mit dem Auto zurückgelegt werden, auf die eigenen Füße zu verlagern, stehen wir vor immensen Herausforderungen, um eine noch viel schlechtere Unfallbilanz zu vermeiden.

Auch das Verkehrsklima ändert sich bei Tempo 30

Städte wie Kopenhagen, Helsinki und Oslo zeigen aber, dass man sich diesen Herausforderungen stellen und äußerst erfolgreich Wege auf den Rad- und Fußverkehr verlagern kann. Dabei gab es 2019 in Helsinki und Oslo erstmals keine getöteten Radfahrenden und Zufußgehenden mehr. Das ist ein Riesenerfolg – Oslo hatte beispielsweise einmal mehr als 40 Getötete bei Verkehrsunfällen pro Jahr. Die wesentlichen Erfolgsfaktoren in allen drei Städten waren immer die Gleichen: die Einführung angepasster Geschwindigkeiten durch konsequentes Tempolimit von 30 oder 20 Stundenkilometern sowie Flächenumwandlungen in den städtischen Straßen, die positiv wirkende Gestaltungen und ein gutes Kleinklima in den Straßenräumen ermöglichten.

Dabei hat sich auch das Verkehrsklima geändert – aus Straßen, durch die man durchgefahren ist, wurden Räume, in denen man sich wohl fühlt, die man sich sehr gerne erläuft und in denen man verweilt, miteinander kommuniziert und wertvolle Zeit verbringt. Forschungsergebnisse zeigen, dass Tätigkeiten wie Verweilen, Kommunizieren, Spielen und Sport in Straßen mit 30 Stundenkilometern reduzierter Höchstgeschwindigkeit um den Faktor 2, in Straßen mit Tempo 20 um den Faktor 3 steigen, wenn dort vorher 50 gefahren wurde.

Und physikalisch betrachtet beträgt die Geschwindigkeit an einer Stelle, an der man mit Tempo 30 das Fahrzeug zum Stehen gebracht hat, bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 50 Kilometern pro Stunde immer noch rund 50 km/h, da dann nur die Reaktionszeit abgelaufen ist und der Bremsvorgang erst beginnt. Reduzierte Geschwindigkeit bringt also völlig unstrittig nicht nur mehr Lebensqualität, sondern auch mehr Verkehrssicherheit in unsere Städte.

Das Parken wird verlagert, nicht abgeschafft

Neben der Geschwindigkeit ist die Straßengestaltung der zweite wesentliche Erfolgsfaktor. Zu Fußgehende verunglücken in deutschen Städten derzeit weit überwiegend beim Überschreiten der Fahrbahn, sowohl an Kreuzungen und Einmündungen als auch auf freier Strecke. Auf Straßen mit viel Verkehr – und hier insbesondere auf Hauptverkehrsstraßen, die mit Tempo 50 befahren werden können – geschehen dabei überproportional zur Verkehrsstärke mehr Unfälle als auf Wohnstraßen mit wenig Verkehr in Tempo-30-Zonen oder verkehrsberuhigten Bereichen. Wie viele Unfälle welcher Art im eigenen Umfeld geschehen sind, kann man seit Neuestem im digitalen Unfallatlas nachschauen.

Ursachen sind in vielen Fällen mangelnde Sichtbeziehungen. Oft führt das Parken am Fahrbahnrand zu unzureichenden Sichtverhältnissen. Es gilt insofern vor allem, Hauptverkehrsstraßen und Knotenpunkte für alle sicher zu gestalten, gute Sichtbeziehungen herzustellen und schnelles Fahren zu vermeiden. Flächenumwandlungen in Kopenhagen, Helsinki und Oslo passieren zugunsten des Rad- und Fußverkehrs und von Bäumen und Grün und nicht zu Lasten des fließenden Kfz-Verkehrs.

Wie das? Indem das Parken in den Straßenräumen verlagert wurde – auf eigens dafür eingerichtete Flächen, Parkhäuser, Tiefgaragen und Quartiersgaragen. Anfängliche Proteste schwanden sehr schnell, da die Bürgerinnen und Bürger vor Ort, wie auch die Gewerbetreibenden, Besucherinnen und Besucher sich nun er erlaufen konnten, wie schön die Straßen in den Städten sein können.

Hamburg integriert Hauptverkehrsstraße in Schulhof

Führt man also solche Vorbild-Städte an, muss man sich darüber im Klaren sein, dass dies in Deutschland auch gelingen kann. Man muss „nur“ dazu bereit sein, zum eigenen Auto die gleichen Wege zu Fuß oder mit dem Rad zurückzulegen, wie zur Haltestelle oder zum Bahnhof. Dabei sind diese Wege dann attraktiv, weil Flächenumwidmung gelingt. Zudem fördert die Nutzung der eigenen Energie – nicht immer, aber immer öfter – die eigene Gesundheit.

Politische Entscheidungstragende haben dies in einigen deutschen Städten erkannt und setzen es erfolgreich um. Eine Beispielsammlung von gut gestalteten Plätzen und Straßen findet sich auf der Website des DVR. Zudem hat beispielsweise Hamburg eine ehemalige Hauptverkehrsstraße in einen Schulhof integriert, Freising das Zentrum vom parkenden Verkehr befreit oder Aachen Premiumwege ins Aachener Grün barrierefrei und komfortabel gestaltet. So ist der Fußverkehr auf dem Vormarsch und es sieht so aus, dass – unterstützt durch eine für das Jahr 2022 vorgesehene Nationale Fußverkehrsstrategie und eine Fußverkehrs-Novelle der StVO – gravierende Veränderungen des städtischen Verkehrsgeschehens anstehen, die uns gut tun werden.

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