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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Wie eine Renaissance der europäischen Industrie gelingt

Ismail Ertug, SPD-Europaabgeordneter
Ismail Ertug, SPD-Europaabgeordneter Foto: Ismail Ertug, SPD-Europaabgeordneter im EU-Parlament

Vor kurzem hat die Europäische Kommission ihre „Strategie für nachhaltige und intelligente Mobilität“ vorgestellt. Mehr als 80 Gesetzesinitiativen sollen dafür sorgen, dass der europäische Transportsektor Rückgrat der europäischen Wirtschaft bleibt, schreibt der SPD-Europaabgeordnete Ismail Ertug. Eine Branche, die mehr als zehn Millionen Europäer beschäftigt.

von Ismail Ertug

veröffentlicht am 24.02.2021

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Die EU ist ambitioniert! Bis 2050 wollen wir der erste klimaneutrale Kontinent sein und bis 2030 mindestens 55 Prozent, wenn nicht mehr, Treibhausgase einsparen. 2050 soll dann der gesamte Transportsektor nur noch zehn Prozent dessen emittieren, was er 1990 ausgestoßen hat.  

Bei den gesetzlichen Initiativen für den Straßenverkehr steht allen voran die Überarbeitung der CO2-Grenzwerte für Pkw und Lkw. Zusammen mit der lang erwarteten Euro-VII-Norm werden diese den Antriebswandel für Straßenfahrzeuge noch einmal beschleunigen. Die Kommission hat auch angekündigt, die Richtlinie, welche die Abmessungen und das Gewicht von Lkw festlegt, erneut überarbeiten zu wollen – diese ist nicht nur wichtig für die Aerodynamik, sondern auch für die Verkehrssicherheit. Die Zielmarken für das Jahr 2030 von 30 Millionen E-Autos und 80.000 Null-Emissions-Lkw greifen dagegen zu kurz. Alleine Deutschland rechnet für das Jahr 2030 mit bis zu 15 Millionen E-Autos und ACEA, der europäische Automobilherstellerverband, hat jüngst 200.000 Batterie- und Brennstoffzellentrucks bis 2030 als realistisch bezeichnet.

Europäischer „Green Deal“

Für Luft- und Schiffsverkehr ist der Weg zur Dekarbonisierung noch etwas weiter entfernt. Auch wenn zum Beispiel ein rein wasserstoffbetriebenes Flugzeug ein vielversprechendes Zukunftsprojekt ist; kurz- und mittelfristig wird das Gros der Flugzeugflotten weiterhin von Verbrennungstriebwerken angetrieben werden. Für Schiffe sind Brennstoffzellen langfristig die vielversprechendste Alternative: betrieben mit grünem Wasserstoff oder dem darauf basierenden Ammoniak. Für beide Verkehrsträger sollen noch in diesem Quartal die Gesetzesinitiativen ReFuelEU Aviation und FuelEU Maritime vorgelegt werden. Ziel muss es sein, ambitionierte Quoten für alternative Kraftstoffe – möglichst Nullemissionskraftstoffe – festzulegen. Auch die Inklusion in den Emissionszertifikatshandel wird wichtige Weichen stellen. 

Für die Schiene hält die Strategie ebenfalls ambitionierte Ziele bereit. Linienverkehre unter 500 Kilometer sollen bis 2030 klimaneutral sein – dies kann im großen Umfang eigentlich nur die Bahn leisten. Die Hochgeschwindigkeitsverbindungen in Europa sollen sich bis 2030 verdoppeln und bis 2050 sogar verdreifachen. Den Schienengüterverkehr will die Kommission bis 2030 um 50 Prozent erhöhen und bis 2050 verdoppeln. Bedenkt man aber, dass das Transportvolumen bis 2050 ebenfalls in dem Maße wachsen könnte, kommt man schnell zu dem Schluss, dass hier noch nachgebessert werden muss.

Eine Million öffentlich zugängliche Ladesäulen soll es 2025 in Europa geben und mehr als drei Millionen in 2030, sowie 500 respektive 1000 Wasserstofftankstellen. Umwelt-, Verbraucher- und Automobilverbände fordern gemeinsam, diese Ziele je um ein Jahr vorzuziehen. Auch für Hafenanlagen und Flughäfen kann die sogenannte AFID (Richtlinie für Alternative Kraftstoffinfrastruktur) eine wichtige Rolle spielen. Das TEN-T Netzwerk ist das Rückgrat der europäischen Verkehrsinfrastruktur und neben der notwendigen Verbesserung der grenzüberschreitenden Verbindungen zu Wasser, zu Luft und auf der Schiene werden auch hier Infrastrukturen für alternative Kraftstoffe eine weit wichtigere Rolle spielen als in der Vergangenheit. Zudem könnte die Energiesteuerrichtlinie fossile Energieträger europaweit teurer machen. 

Smart Mobility 

Die Digitalisierung schreitet mit großen Schritten voran, es gibt kaum einen Bereich, vor dem sie halt macht. Autonomes und vernetztes Fahren sind neben der Elektrifizierung die Innovationstreiber, welche die Branche ordentlich durcheinanderwirbeln. Gerade weil die Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung so schnell voranschreitet, ist es wichtig, dass die europäische Gesetzgebung Schritt hält, keine Hindernisse aufbaut, aber trotzdem einen Orientierungsrahmen schafft. Europa muss Standards entwickeln, wenn es nicht will, dass andere, vor allem die USA oder China, diese in Zukunft diktieren können.

Gleiches gilt für die Vision einer europäischen Bahnpolitik. Die europäische Bahninfrastruktur hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht grundlegend geändert, die Anforderungen an sie aber sehr wohl. Auch muss der europäische Fahrgastverkehr auf der Schiene verbraucherfreundlicher werden, wenn mehr Menschen diesen umweltfreundlichen Verkehrsträger nutzen sollen – grenzüberschreitende Verbindungen sind hier ein drängendes Anliegen. Ein Meilenstein ist die Idee, multimodale elektronische Ticketsysteme für den Personenverkehr einzuführen. Die Vision ist, dass jemand von einem beliebigen Punkt A in Europa zu einem beliebigen Punkt B reisen kann und das mit einem einzigen Fahrschein – egal, wie viele Verkehrsträger er dafür benutzt. 

Entstehung neuer Industriezweige

Der schon stattfindende Transformationsprozess ist eine Jahrhundertherausforderung. Gleichzeitig hat die Coronakrise weite Teile der Gesellschaft und Wirtschaft verunsichert. Und doch bieten all diese Herausforderungen eine Chance. Erst vor kurzem hat die Europäische Kommission das zweite IPCEI („important projects of commoun european interest“) über 2,9 Milliarden Euro genehmigt. Die Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, können den Aufbau einer wettbewerbsfähigen Batteriezellenindustrie nun weiter direkt fördern. Alleine 2020 wurden mehr als 25 Milliarden Euro in die aufstrebende europäische Batteriezellenindustrie investiert – doppelt so viel wie im selben Zeitraum in China. Europa wird bis 2030 der zweitgrößte Batterieproduzent der Welt sein und die gesamte Wertschöpfungskette könnte drei bis vier Millionen Menschen Arbeit bieten. Damit werden wir auch neue Sozial- und Nachhaltigkeitsstandards setzen.

Das zweite große industriepolitische Projekt ist Wasserstoff. Auch hier fördert die EU aktiv den Aufbau einer heimischen Industrie. Beide Initiativen bieten die Chance, gänzlich neue Industriezweige aufzubauen. Etwas, das es in Europa jahrzehntelang nicht gegeben hat. Ähnliche industriepolitische Allianzen zwischen der EU und den Mitgliedstaaten einerseits und der Wirtschaft andererseits müssen wir weiter vorantreiben. Gerade im Verkehrsbereich bietet der Wandel auch Chancen für besondere Innovationen, wie zum Beispiel den Hyperloop. Wenn Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zusammen die Weichen richtig stellen, können wir langfristig von einer Renaissance der europäischen Industrie sprechen. Europas Strategie für eine „nachhaltige und intelligente Mobilität“ kann ein wegweisender Schritt in diese Richtung sein. 

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