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Digitalisierung & KI

Standpunkte Besser nach vorne forschen

Christoph Seckler, Professor für Entrepreneurial Strategy an der ESCP Business School in Berlin
Christoph Seckler, Professor für Entrepreneurial Strategy an der ESCP Business School in Berlin Foto: privat

Angesichts enormer digitaler Herausforderungen wäre eine praxisorientierte BWL-Forschung enorm wichtig, argumentiert Christoph Seckler von der ESCP Business School. Doch statt zur Lösung realer Probleme beizutragen, werde ein zu starker Fokus auf erklärende Forschung gelegt. Der Wirtschaftsprofessor hat aber auch Positivbeispiele.

von Christoph Seckler

veröffentlicht am 05.09.2023

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Das Covidvirus ist gefunden – aber die Entwicklung von Medikamenten gegen die Krankheit? Nicht unser Thema. Die Entstehungsweise von Erdbeben ist erforscht – aber Maßnahmen dagegen entwickeln? Sollen andere machen. Das Prinzip von Batterien ist erläutert – aber deren Leistungsfähigkeit erhöhen? Nichts für uns. Würden wir diese Aussagen von Mediziner:innen, Geolog:innen oder Ingenieur:innen hören, wären wir sehr irritiert: Sind sie nicht Expert:innen, um Lösungen zu entwickeln – und nicht nur Phänomene zu beschreiben?

Dennoch geht es in der Betriebswirtschaftslehre (BWL) viel zu oft um erklärende Forschung, also zurückblicken, um Vergangenes und Bestehendes zu verstehen. Das, was wir in vielen anderen Wissenschaften wie der Medizin, der Geologie oder den Ingenieurwissenschaften sehen, die gestaltungsorientierte Forschung, finden wir in der deutschen BWL-Forschung kaum. Ein Fehler, der Wissenschaft und Praxis gleichermaßen massiv schadet – gerade mit Blick auf die vielfältigen digitalen Herausforderungen. Denn zu deren Lösung bräuchte es eine praxisorientierte Forschung.

Die BWL-Forschung könnte Probleme der Praxis lösen

Cybersicherheit zum Beispiel, ein riesiges Thema für deutsche Unternehmen. Nach Angriffen wird Wissen von Firmen ungern geteilt, weil es oft als Schwäche, als Versagen angesehen wird. Die Wissenschaft könnte mit methodischer und inhaltlicher Kompetenz dabei unterstützen, Erfahrungen aufzuarbeiten und Lösungen für die Zukunft für andere Unternehmen zu entwickeln.

Der sinnvolle Einsatz des Metaverse und erweiterter Realitäten ist ebenfalls noch ein unbeschriebenes Blatt, die Praktiker:innen probieren unterschiedlichste Anwendungsgebiete aus. Die Wissenschaft könnte dies begleiten und lösungsorientiert aufbereiten. Auch organisationale Themen – die Einführung von digitalen Prozessen in Unternehmen und Behörden beispielsweise – ließen sich von der Wissenschaft gemeinsam mit der Praxis untersuchen.

Im Zuge der gestalterischen Forschung würden die Ergebnisse dann nutzwertig für Gesellschaft und Wirtschaft aufbereitet werden, wie wir es aus der Medizin bei Medikamenten, der Geologie in der Arbeit am Schutz vor Erdbeben oder aus dem Ingenieurwesen bei der Optimierung von Batterien kennen. Allein: Innerhalb der BWL ist gestaltungsorientiertes Forschen nach wie vor verpönt. Die besten wissenschaftlichen Journale haben aus historischen Gründen eine erklärende Forschungstradition – und Publikationen sind eine zentrale Währung für die wissenschaftliche Laufbahn. Kurz gesagt: Wer sich seine Karriere nicht verbauen will, forscht als BWLer lieber im Elfenbeinturm als für und mit der Praxis.

Wissenschaft muss sich – auch aufgrund von KI – verändern

Doch es gibt erste Bewegungen hin zu mehr praxisorientierter Arbeit. So hat die gestalterische Forschung in einer ihrer wenigen bisherigen Anwendungen in der BWL ganz praktisch gezeigt, wie Entrepreneurship-Trainings gestaltet werden sollten, um Armut in Westafrika zu bekämpfen. Darüber hinaus haben auch zunehmend Unternehmen Interesse an der Arbeit mit Hochschulen, um in Kontakt mit Fachwissen und neuen Talenten zu kommen. Mit dem Market of Makers werden Unternehmen etwa dabei unterstützt, durch eine wissenschaftsbasierte Methode mehr Intrapreneurship zu initiieren. Und die ESCP Business School hat für das Medizinunternehmen Ovesco ein wissenschaftlich fundiertes Programm gestaltet, durch das Mitarbeitende gezielt und individuell weitergebildet werden. Beides sind erste Schritte hin zu mehr Austausch zwischen Praxis und Wissenschaft.

Langfristig wird sich auch die Wissenschaft aus eigenem Interesse hin zu zukunftsgerichteter Forschung bewegen müssen. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt Künstliche Intelligenz. Sie wird künftig als verlässlich rückblickend arbeitende Instanz die Interpretation von bestehenden Daten übernehmen. Wissenschaftler:innen können dann also vor allem Mehrwert stiften, wenn sie mit praktischen Gestaltungsbeispielen nach vorne forschen.

Dass sich auch die Lehre selbst ändern muss und die Sinnhaftigkeit von klassischen Vorlesungen in zunehmenden KI-Zeiten schwindet, ist ein anderes Thema.

Design Science, also die gestalterische Forschung, sollte auch in der deutschen BWL stärker werden, um die zahlreichen Probleme der Gegenwart zu lösen. Für starke Unternehmen mit klugen digitalen Lösungen muss zukünftig auch die Wissenschaft weit mehr sorgen als bisher. Denn nur so wird sie in einer sich verändernden Welt auch relevant bleiben.

Christoph Seckler leitet den Lehrstuhl für Entrepreneurial Strategy an der ESCP Business School in Berlin. Er forscht insbesondere zum Thema „Fehlerkultur“ und Design Science. Vom Wirtschaftsmagazin Capital wurde er als „Top 40 unter 40“ ausgezeichnet.

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