In Deutschland ist die Digitalisierung mittlerweile in der gesellschaftlichen Diskussion angekommen und steht auch in der Politik nicht mehr in der Exotenecke – wie noch vor wenigen Jahren. Jedoch greift der Begriff Digitalisierung und die Diskussion zu kurz. Hinter der revolutionären Veränderung, in der wir uns gerade befinden, verbirgt sich viel mehr. Neben der eigentlichen Digitalisierung ist die globale Vernetzung der digitalen Daten und deren Verknüpfung ein wesentliches Merkmal dieser Veränderungen. Dies alles geschieht mit einer bisher unbekannten, rasanten Geschwindigkeit. Dies führt in vielen Fällen dazu, dass wir bestimmte Entwicklungen nur noch als Zuschauer, nicht mehr als Gestalter wahrnehmen können.
Bei manchen wirkt dieser Umbruch erschreckend und zu oft werden dann nur die negativen Aspekte in den Vordergrund gerückt. Zu häufig sind hier die Folgen auf der einen Seite Unsicherheit und Angst, auf der anderen Seite der unachtsame Umgang mit neuen Möglichkeiten. Datenschutz und Schutz der Privatsphäre werden heute von vielen oft auch aus Bequemlichkeit anders bewertet – oder ignoriert.
Vergleichbare Reaktionen hat es immer bei revolutionären technologischen Fortschritten gegeben. Die Erfindung des Buchdruckes, die Industrialisierung, die erste Eisenbahn und der Fernseher sind nur einige Beispiele. Jedes Mal gab es Mahner und Bremser, die den Untergang der Zivilisation befürchteten. Das Internet ist eine große Chance für die Menschheit und wir haben die Möglichkeit diese selbst zu gestalten. Wir müssen es lediglich tun.
Gemeinsam das Neuland gestalten
Dazu ist es nötig, dem technologischen Fortschritt möglichst seinen freien Lauf zu lassen und gleichzeitig Leitplanken zu setzen. Grenzen zu ziehen. Dies fehlt im Moment noch. Wir haben in Deutschland bereits viele innovative Vordenker und Firmen, dennoch kommen die großen Innovationen oft aus anderen Ländern, insbesondere China und den USA. Das heißt auch, dass diese Länder durch ihre Produkte und Dienstleistungen ihre Werte transportieren. Wir müssen uns entscheiden, ob wir auch zu den innovationsfreundlichen Gesellschaften gehören wollen und unseren europäischen Werten, wie einem verbraucherorientierten Datenschutz, Gehör verschaffen wollen, oder ob wir uns national einigeln und Bestehendes konservieren, was allerdings dem Grundgedanken des „grenzenlosen“ Internets widerspräche.
Die digitalisierte Gesellschaft befindet sich im Moment in einer Art „digitalen Pubertät“. Wir testen Grenzen aus und überschreiten diese. Es gibt noch keine vorgefertigten Verhaltensregeln und die neuen Möglichkeiten lassen zu oft die guten Manieren vergessen, da man sich im Schutze einer angeblichen Anonymität wähnt. Nationale Gesetzgebung ist hier nur bedingt hilfreich. Das Internet kennt keine Grenzen, es ist also ein globaler Ansatz eines „Common Sense“ nötig. Ein gemeinsames Verständnis von dem, was wir erlauben wollen und was nicht, wie man sich benimmt und wie wir friedlich miteinander umgehen können, müssen wir auch für „Neuland“ entwickeln. Eine Plattform dafür bietet das Internet Governance Forum (IGF) der Vereinten Nationen.
Deutschland als Botschafterin der digitalen Aufklärung
Dieses Jahr ist Deutschland das Gastgeberland des XIV. Internet Governance Forums, das im November in Berlin stattfinden wird. Unter dem Motto „One World. One Net. One Vision.“ werden tausende Teilnehmer, darunter Vertreter von Regierungen, Abgeordnete, Unternehmer, Wissenschaftler und Vertreter der Zivilgesellschaft aus aller Welt erwartet, um miteinander eine Woche lang über die Zukunft und drängende Fragen der digitalisierten und vernetzten Welt zu diskutieren. Insbesondere die Bedeutung grenzüberschreitenden Datenverkehrs (data governance), Sicherheit im Netz sowie die Integration ausgrenzungsgefährdeter Gruppen (e-Inclusion) werden die Themenschwerpunkte sein.
Als Gastgeberland ergibt sich für uns die einmalige Chance, German Mut als unseren Markenkern in der digitalisierten und vernetzten Welt nach außen zu tragen. Für mich ist klar, dass wir nur mit Vernunft und Mut unsere demokratischen Werte in die digitalisierte und vernetzte Welt einbringen können. Deutschland hat das Potential, hier Pionierarbeit zu leisten. Ich plädiere dafür, dass wir eine digitale Aufklärungsbewegung auf politischer, unternehmerischer, wissenschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Ebene anstoßen, die als ihr Ziel aufgeklärte Menschen im Zeitalter des digitalen Wandels in den Mittelpunkt stellt. Hierfür möchte ich im Rahmen des IGFs Unterstützer aus der ganzen Welt gewinnen.
Den eigenen Horizont erweitern
Seit 2003 verfolge und gestalte ich die Aktivitäten des IGFs. Ich war selbst bei drei Veranstaltungen vor Ort dabei und habe Workshops organisiert: 2011 in Nairobi, Kenia, 2012 in Baku, Aserbaidschan und 2013 in Bali, Indonesien. Meine dortigen Erfahrungen haben meine Perspektive immens erweitert und mich über den deutschen und europäischen Tellerrand hinaus blicken lassen. Ich durfte zum Beispiel arabische, chinesische und afrikanische Vorstellungen einer vernetzten Welt kennenlernen.
Die Besonderheit des IGFs ist dessen Multistakeholder-Ansatz, der eine lebendige Diskussion über Netzpolitik mit Experten und Interessierten unterschiedlichster Disziplinen aus Ländern weltweit ermöglicht. Dadurch habe ich eine unglaubliche Vielfalt an Meinungen, Denkweisen und Interpretationsspielräumen kennenlernen können. Diese Erfahrung möchte ich jedem empfehlen – sie bildet und sie fördert die Toleranz. Die stets große Frage, die dabei im Raum steht, lautet: Können wir uns – zumindest in ein paar wichtigen Bereichen – auf einen „Common Sense“ einigen?
Jimmy Schulz (FDP) ist Vorsitzender des Bundestagsausschusses Digitale Agenda. Der Diplom-Politologe und IT-Unternehmer ist seit 2017 erneut Mitglied des Deutschen Bundestages. Auch in der Wahlperiode von 2009 bis 2013 war Schulz bereits Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis München-Land, wo er vor allem zu netzpolitischen Themen arbeitete. Zum Beispiel als Obmann seiner Fraktion in der Enquête-Kommission Internet und digitale Gesellschaft (2010-2013). 2014 gründete Schulz den liberalen netzpolitischen Verein LOAD, dessen Vorsitzender er bis 2018 blieb.