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Digitalisierung & KI

Standpunkte Die Verantwortung von Social Media im Umgang mit Hass im Netz

Philipp Witzmann ist CEO von Nebenan.de (Foto: Viktor Strasse).
Philipp Witzmann ist CEO von Nebenan.de (Foto: Viktor Strasse).

Eine Studie belegt: Viele Menschen erleben im Internet eine Zunahme von Feindseligkeiten, Beleidigungen und Aggressionen. Es ist nicht allein Aufgabe der Gesetzgebung, eine Antwort auf diese Entwicklung zu finden. Auch die Betreiber der Plattformen sind gefragt – und haben durchaus wirkungsvolle Hebel zur Verfügung, meint Philipp Witzmann, CEO von Nebenan.de.

von Philipp Witzmann

veröffentlicht am 27.03.2024

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Jede:r zweite Deutsche wurde schon mal im Internet beleidigt. Fast jede zweite junge Frau (42 Prozent) erhielt bereits ungefragt ein Nacktfoto. Einem Viertel der Deutschen wurde online körperliche Gewalt angedroht. Fast 90 Prozent haben den Eindruck, dass Hass im Netz zunimmt. Es sind alarmierende Zahlen, die eine kürzlich durchgeführte Studie zu digitaler Gewalt, die umfangreichste dieser Art seit 2019, offenlegt. Durchgeführt vom Kompetenznetzwerk gegen Hass – einem Zusammenschluss mehrerer Organisationen.

Es sind Zahlen, die verdeutlichen, dass wir alle mehr als 30 Jahre nach der Öffnung des World Wide Webs endlich Antworten auf die zentrale Frage brauchen: Wie schaffen wir es, das Internet zu einem besseren Ort zu machen?

Diese Frage wird immer drängender. Hass im Netz ist kein neues Phänomen und die Utopie, dass das Internet die Welt frei und gleich macht, ist längst widerlegt. Stattdessen wächst die digitale Unfreiheit seit mehr als einem Jahrzehnt, das Internet ist vielerorts vor allem ein Instrument staatlicher Überwachung. Aber selbst in einem demokratischen und freien Land wie Deutschland wird das Internet von vielen nicht mehr als ein Ort wahrgenommen, in dem sie sich unbesorgt bewegen können. Im Gegenteil: Mehr als die Hälfte der befragten Internetnutzer:innen hierzulande zieht sich aus Angst vor negativen Reaktionen aus öffentlichen Debatten zurück. Besonders betroffen sind dabei junge Frauen sowie nach Deutschland Eingewanderte, ihre Nachkommen und Mitglieder der LGBTQ+-Gemeinschaft.

Es geht um unsere Demokratie

Dieser Rückzug ist fatal. Wir leben in Zeiten, in denen wir echten Grund zur Sorge um den Fortbestand unserer Demokratie haben. Weil dieses Fundament unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens von innen und außen angegriffen wird. Umso wichtiger ist ein (angst)freier, demokratischer Austausch. Nicht nur offline, sondern auch online, wo sich für immer mehr Menschen zunehmend wesentliche Teile ihres alltäglichen Lebens abspielen.

Aber wie können wir dieser Entwicklung begegnen? Gefragt sind alle Beteiligten. Politik und Regulatorik, aber eben nicht nur – auch die Betreiber:innen von Social-Media-Plattformen. Es bedarf nicht nur einer Anpassung gesetzlicher Regelungen, um mit der sich schnell entwickelnden digitalen Landschaft Schritt zu halten. Es braucht vor allem eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Regierungen, technologischen Unternehmen und der Zivilgesellschaft, um effektive Strategien zur Bekämpfung von Online-Hass zu entwickeln und umzusetzen. Förderung von Medienkompetenz und digitaler Aufklärung sind ebenso kritische Elemente, um Nutzer:innen zu befähigen, Hassrede zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Gleichzeitig ist es wichtig, Erfahrungen und Best-Practice-Beispiele auszutauschen. Genau das soll mit diesem Text im Folgenden getan werden. Im Wissen, dass sich das, was für uns bei Nebenan.de funktioniert, nicht immer auf andere Plattformen und Netzwerke übertragen lässt. Einiges aber vielleicht schon.

Mit Nebenan.de sind wir das größte soziale Nachbarschaftsnetzwerk in Deutschland. Mehr als drei Millionen Menschen sind über uns mit ihren Nachbar:innen verknüpft, in Städten wie Berlin, München oder Köln mehr als ein Viertel der Haushalte. Wir erleben keinen Rückzug, sondern einen Zulauf. Und wir erleben auf unserer Plattform eine Kultur des Miteinanders statt Gegeneinanders: Mehr als die Hälfte unserer Nutzer:innen haben allein im genannten Jahr über unser Netzwerk Nachbarschaftshilfe erhalten, fast ebenso viele solch eine Hilfe geleistet.

Wie geht das? Wie schafft man ein digitales Umfeld geprägt von Hilfsbereitschaft statt von Hass, Häme und Hetze? Folgende Schlüssel haben wir für uns identifiziert:

  • Klarnamenpflicht: Ein kontroverses Thema, für uns aber maßgeblich. Anonymität und der Schutz persönlicher Informationen vor unbefugtem Zugriff sind in vielen Anwendungsfällen essenziell. Gleichzeitig spielen Fake Accounts und Bots bei der grassierenden Verbreitung von Manipulationen, Belästigungen, Mobbing und Hassrede im Netz eine zentrale Rolle. Für uns ist die Klarnamenpflicht bei der Anmeldung deshalb eine unverhandelbare Zugangsbedingung. Ja, wir setzen damit die Eintrittsbarriere maximal hoch – was uns sicher auch eine relevante Zahl potenzieller Nutzer:innen kostet. Aber uns ist es das wert, weil dadurch die Nutzungserfahrung der Menschen, die sich bei uns bewegen, massiv verbessert wird.
  • Verifizierte Nutzer:innen: Seit Tag eins bieten wir verschiedene Möglichkeiten, sich als echte Nachbar:innen mit Klarnamen in der jeweiligen Nachbarschaft zu verifizieren. Denn wir möchten nicht nur echte Menschen auf unserer Plattform haben, sondern auch echte Nachbar:innen. Streng genommen ist Nebenan.de gar nicht ein einziges Nachbarschaftsnetzwerk, sondern es besteht aus 10.000 Nachbarschaftsnetzwerken. Deshalb gibt es bei uns nicht nur die Pflicht zum Namensnachweis, sondern auch zur Adressverifikation. Man kann sich nur in den Nachbarschaften anmelden, in denen man tatsächlich zu Hause ist. Dies führt übrigens auch dazu, dass Fake News und Bots bei uns auf viel weniger Nährboden treffen. Ihr Wirkungsgrad ist beschränkt, eine Skalierung nicht möglich.
  • Motivation zu Moderation: Die begrenzte Größe der einzelnen Nachbarschaften führt dazu, dass sich ihre Mitglieder mehr verantwortlich für die Atmosphäre und die kommunizierten Inhalte dort fühlen. Unterstützt von einem sehr aktiven Community-Management durch uns als Betreibende. Eben weil es nicht um einen endlosen, anonymen Raum geht, sondern um die digitale Erweiterung des eigenen Zuhauses. Verstöße gegen unsere Richtlinien und Netiquette werden schnell gemeldet, Konflikte oft eigenständig moderiert.
  • Relevante Inhalte: Die enorme Sogwirkung sozialer Netzwerke ist viel beschrieben worden. Wenn Algorithmen Inhalte bevorzugen, die möglichst starke Reaktionen hervorrufen, gewinnen sensationalistische, polarisierende und kontroverse Beiträge permanent an Reichweite. Unendliche Feeds und die zunehmende Isolation von Nutzer:innen in Echokammern mit ausschließlich Gleichgesinnten tun ihr Übriges. Wir verzichten bewusst auf inhaltsoptimierte Filterblasen. Uns geht es nicht um maximale Reichweite, sondern um maximale Relevanz – lokal, beschränkt auf die jeweilige Nachbarschaft. Und damit auf natürliche Weise begrenzt.

Reichweite ist nicht alles

Die beschriebenen Mechanismen haben ihren Preis. Wir verzichten auf größtmögliche Reichweite – dabei ist Reichweite die Währung, nach der soziale Netzwerke in der Regel ihren Erfolg bemessen. Es ist die Aufgabe aller Netzwerkbetreibenden, hier eine Balance zu finden. Reichweite sollte dabei nach der Nutzererfahrung erst die zweite Priorität sein. Dazu gehört auch, Nutzer:innen vor Hass und Destruktivität zu schützen. Für uns ist das nicht nur eine gesellschaftliche Verantwortung, wir halten das auch aus wirtschaftlicher Sicht für das bessere, nachhaltigere Geschäftsmodell.

Die Menschen werden sich auch in Zukunft online vernetzen wollen. Der Wunsch nach digitalem Austausch wird eher noch wachsen. Aber nicht in einem rechtsfreien Raum, wo sich durchsetzt, wer lauter oder rücksichtsloser ist. Sondern in einem digitalen Umfeld, in dem man sich weitgehend sicher und frei von Anfeindungen jeglicher Art bewegen kann. Ein Internet, in dem man sich wirklich zu Hause fühlen kann.

Philipp Witzmann ist CEO des Nachbarschaftsnetzwerks Nebenan.de – mit mehr als drei Millionen Nutzer:innen das größte soziale Netzwerk aus Deutschland.

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