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Digitalisierung & KI

Standpunkte Wer hetzt, hat schon verloren

Foto: Promo

Ein Katholik und ein Protestant fordern einen anderen Umgang im Netz. Gemeinsam haben sie das Projekt #anstanddigital gegründet, weil sie daran glauben: Das Reizklima von nackter Empörung, blinder Wut, von Hass und Ressentiment lässt sich entgiften.

von Johann Hinrich Claussen und Joachim Hake

veröffentlicht am 23.12.2019

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Die öffentliche Stimmung ist gegenwärtig von zwei gegenläufigen Fehlhaltungen geprägt. Gleichgültigkeit, Achselzucken, das Zeigen der kalten Schulter einerseits und eine merkwürdige Erregungs- und Empörungsbereitschaft andererseits. Beides zusammen stiftet ein giftiges Reizklima, in dem sprachliche Grenzüberschreitungen und Entgleisungen gedeihen. Vor allem im Internet finden Hass und Ressentiment einen fruchtbaren Nährboden. Viele Menschen aber beginnen, nachzudenken und sich einen anderen Umgang im Netz zu wünschen: respektvoller und anständiger, vielleicht sogar anmutiger und weltläufiger.

Lassen sich Haltungen und Umgangsformen im Netz positiv verändern? Wir sind hier durchaus zuversichtlich. Die verbreitete kulturpessimistische Meinung, in der digitalen Welt ließe sich in dieser Hinsicht nichts zum Guten wenden, teilen wir jedenfalls nicht. 

Auch reicht uns eine bloß theoretische Kulturkritik des Digitalen nicht aus. Die Kritik muss in der Praxis zu verändertem Verhalten führen. Dabei geht es uns nicht um stickige, muffige Benimmregeln, sondern um - so der Titel eines Buches von Enrico Brissa – ein „weltläufiges Benehmen“: Wir wünschen uns eine Lebenskunst, mit der Umgangsformen kultiviert und so gepflegt werden, dass in der digitalen Welt die Blasen von nationalen, ethnischen, religiösen und weltanschaulichen Vergemeinschaften durchlässiger werden, empfänglicher für Anderes und Fremdes.

Wie aber funktioniert Kommunikation im Digitalen? Wer steuert und bestimmt sie?  

Wenn schon im analogen Bereich Unsicherheit über verbindliche Umgangsformen und Regeln herrscht, verschärft sich dies für das Netz aus vielerlei Gründen. Die dichte Kommunikationsatmosphäre des Netzes scheint die notwendige Distanz und den Abstand für gute Umgangsformen zu verunmöglichen. Wo alles gleich und permanent bewertet, qualifiziert, kommentiert und beurteilt wird, ist es schwer, jenen Abstand zu finden, ohne den so etwas wie eine Haltung des Respekts und der Höflichkeit undenkbar ist.

Hat der Philosoph Byung-Chul Han recht, wenn er mit großem kulturkritischen Gestus behauptet, dass die „digitale Abstandslosigkeit“ alle „Spielformen von Nähe und Ferne“ zerstöre und alles „gleich nah und gleich fern“ sei und die digitale Transparenzgesellschaft die Welt entauratisiert und entmystifiziert?

Solch rigorose Urteile über die digitale Welt regen zum Nachdenken an, aber sie erklären die Phänomene nur unzureichend. Gute Umgangsformen leben aus der Kraft der Verzögerung und Enthaltung, des Indirekten, der Andeutung, dem Spiel der Assoziationen. Das Netz scheint alles das kaum zuzulassen. Doch stimmt das Urteil von Han wirklich? Oder liegt es nicht eher an uns selbst, die wir von uns selbst gehetzt (oder weiß Gott von wem) vor dem Bildschirm sitzen und nicht sehen, dass das Netz viel luftiger und freiräumiger ist, als wir ahnen?

Eine große Bedeutung kommt allerdings der politischen und technischen Frage zu, wer für die Fehlhaltungen im Internet verantwortlich ist. Sind die Blasenbildungen und Hasseskalationen die Schuld der kommunizierenden Menschen oder haben sie ihren Grund in den technisch-strukturellen Voreinstellungen sozialer Netzwerke wie Facebook?

Über all diese Fragen muss verstärkt diskutiert werden. Dabei könnte die gemeinsame Sorge für gute Umgangsformen im Netz der spätmodernen Neigung zur Ichbezogenheit entgegenwirken und dafür sorgen, dass man die Anderen besser wahrnimmt. Gute Umgangsformen sind das Gegenteil von einem leeren Narzissmus. Mit ihrer Hilfe eröffnet man sich selbst und seinen Mitmenschen Spielräume der Freiheit und des Zusammenwirkens. Man tritt zurück, hört zu, fragt nach und wird aufmerksamer und großzügiger.

Dies ist eine Übung menschlichen Zusammenlebens diesseits von autoritären, moralischen, rechtlichen und politischen Ordnungsvorstellungen. Gute Umgangsformen sind unvereinbar mit ideologischen Bornierungen, religiöser oder politischer Propaganda oder weltanschaulichen Rechthabereien.

Wir sind zuversichtlich, dass sich durch eine Kultur des respektvollen Feedbacks in den sozialen Netzwerken nach und nach angemessenere Umgangsformen im Netz durchsetzen lassen. Das Reizklima von nackter Empörung, blinder Wut, von Hass und Ressentiment lässt sich entgiften. Gute Umgangsformen verbessern schon im analogen Alltag das soziale Klima und wirken ansteckend.

Gemeinsames Nachdenken über diese und andere Fragen könnte helfen, sich besser im Netz zu bewegen: respektvoller, klarer, weniger gehetzt. Denn eines ist klar: wer hetzt, hat schon verloren. 

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche Deutschland. Joachim Hake ist Direktor Katholische Akademie in Berlin e.V.. Gemeinsam haben sie das Projekt #anstanddigital ins Leben gerufen, um die Fragen „Was geht?“ und „Was geht nicht?“ zur öffentlichen Diskussion zu stellen. Hier können Sie mitdiskutieren.

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