Digitale Gewalt ist kein Einzelfall. Sie betrifft uns alle direkt – sei es durch hasserfüllte Kommentare gegen die eigene Person oder indirekt, weil wir in einem Klima zunehmender Angst und Gewalt leben. Hass und Hetze im Netz sind kein Phänomen, das online bleibt: Es verschwindet nicht, sobald der Laptop zugeklappt oder das Handy ausgeschaltet wird. Digitale Gewalt geht nicht nur die Menschen etwas an, die direkt davon betroffen sind. Sie ist eine Gefahr für unsere Gesellschaft und die Demokratie.
Was dystopisch klingt, ist längst Teil unserer Realität. Der Sturm eines online aufgepeitschten Mobs auf das Kapitol in Washington D. C. vor einem Jahr hat gezeigt: Was online passiert, bleibt analog nicht folgenlos. Soziale Netzwerke werden nicht nur zum Teilen von Fotos mit der Familie oder Freund*innen genutzt, sondern auch für Angriffe auf das Fundament gefestigter Demokratien. Auch vor der eigenen Haustür erleben wir, wie sich Aggression aus dem Netz zu handfesten Gewalttaten auf unseren Straßen entwickelt. Wenn Rechtsextreme den Bundestag stürmen wollen, tagtäglich auf Telegram zum Mord aufrufen oder mit Fackeln vor dem Haus von Politiker*innen marschieren, wird Washington schnell zu Berlin.
Meinungsfreiheit im Netz verschwindet
Während gewalttätige Stimmen lauter werden, verstummen andere. Digitale Gewalt grenzt ausgerechnet die Menschen aus, die die Freiheit des Netzes am meisten brauchen und unsere Debatten bereichern. Die aktuelle Umfrage der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) unter rund 1.000 repräsentativ ausgewählten Befragten zeigt, dass Internetnutzer*innen insbesondere Rassismus, Antisemitismus sowie Homo- und Transfeindlichkeit im Netz beobachten. 67 Prozent der Befragten geben an, im Netz Hass und Hetze erlebt zu haben; jede vierte junge Frau* hat digitale Gewalterfahrungen gemacht. Das Internet als öffentlicher Raum für Demokratie wird der freien Gesellschaft streitig gemacht. Hass im Netz ist daher auch eine Gefahr für Grundrechte: Viele Verbalattacken und Beleidigungen greifen die Menschenwürde an. Dazu kommt, dass immer weniger Menschen an Debatten am Netz offen teilnehmen: Mehr als die Hälfte aller Nutzer*innen in Deutschland traut sich nicht mehr, frei die eigene Meinung im Netz zu äußern – zu aggressiv ist die Stimmung, zu groß die Furcht vor digitalen Angriffen.
Die politischen Maßnahmen der vergangenen Jahre bieten uns bisher keinen ausreichenden Schutz. Weder das Netzwerkdurchsetzungsgesetz noch das Einrichten von Schwerpunktstaatsanwaltschaften oder chronischunterfinanzierte Beratungsstrukturen reichen aus. Damit kommt der Staat trotz politischen Willens und gut gemeinter Versuche seiner Schutzpflicht im digitalen Raum nicht nach. Unsere Umfrage zeigt, dass die unzureichenden Maßnahmen ihre Spuren hinterlassen haben: Nur wenige der Befragten haben Vertrauen in die politischen Parteien, wenn es darum geht, konsequente Maßnahmen für den Umgang mit digitaler Gewalt zu entwickeln. Mit 13 Prozent vertrauen die Befragten noch am ehesten der SPD – der Rest der Parteien schafft es nicht über einen einstelligen Wert hinaus. Deswegen fordern wir: Statt freiheitsgefährdende Nebenschauplätze wie die Klarnamenpflicht zu bemühen, muss der Gesetzgeber endlich effektive und vor allem schnell wirkende Maßnahmen ergreifen.
Die neue Legislaturperiode bietet die Chance für einen Neuanfang: Das Bewusstsein für die demokratiegefährdenden Folgen digitaler Gewalt wächst und hat Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden. Das geplante digitale Gewaltschutzgesetz darf aber nicht nur mit Sicherheitsbehörden und Tech-Giganten diskutiert werden: es muss die Erfahrungen und Forderungen aus der Zivilgesellschaft und der Betroffenen berücksichtigen, um nicht an ihren Bedarfen vorbei entwickelt zu werden. Mit der Marie-Munk-Initiative der GFF werden wir diesen Prozess begleiten und einen eigenen Gesetzesentwurf ausarbeiten.
Account-Sperre als Mittel gegen digitale Gewalt
Einer der Gründe für digitale Gewalt ist, dass Täter*innen sie oft nicht als Straftat mit Folgen für sie wahrnehmen, auch weil die Strafverfolgung in den allermeisten Fällen nicht gewährleistet ist. Die strafrechtliche Verfolgung der Täter*innen weist Hürden für Betroffene, aber auch für die Polizei und Staatsanwaltschaft auf. Strafverfolgungsbehörden sind bei ihren Ermittlungen häufig auf Informationen aus den USA und Irland angewiesen. Entsprechende Rechtshilfeersuchen bleiben jedoch vor allem in den Bereichen Volksverhetzung, Verleumdung und Beleidigung häufig erfolglos. Zudem ist die Strafverfolgung auch schlichtweg zu langsam, um im digitalen Raum zu greifen, wo es eher um Stunden und Tage, als um Monate und Jahre geht.
Wir fordern deshalb ein Ansetzen bei den Mitteln und Werkzeugen, mit denen digitale Gewalttaten begangen werden: Die Social-Media-Accounts. Wir brauchen ein zivilrechtliches Verfahren, mit dem Betroffene Sperren von Accounts durchsetzen können, die für rechtswidrige Äußerungen missbraucht werden. Die Verantwortung für die Durchsetzung dieser Maßnahmen muss beim Staat liegen, nicht bei privaten Unternehmen. Bei diesem Ansatz ist zunächst einmal irrelevant, wer hinter dem Account steht und ob sich diese Person im In- oder Ausland aufhält. Es muss darum gehen, effektiv und rechtsstaatlich sauber den Kanal, über den digitale Gewalt verbreitet wird, jedenfalls vorläufig stillzulegen und so Betroffene vor weiteren digitalen Attacken zu schützen. Damit wird schnelle Abhilfe geschaffen und Betroffene sind nicht mehr auf langwierige Strafverfahren und die Suche nach Täter*innen angewiesen. Zwar können sich Täter*innen im Netz neue Profile und Accounts anlegen. Das Sperren von Accounts ist aber ein wichtiger und effektiver Schritt, um Betroffene zu stärken; endlich können sie sich schnell gegen die Folgen digitaler Gewalt wehren und gewinnen die Kontrolle zurück
Die Bevölkerung ist von unseren Vorhaben bereits überzeugt: Etwa 90 Prozent der Befragten unserer Umfrage unterstützen die Forderungen der Marie-Munk-Initiative – wir wären also so weit, liebe Bundesregierung.
Sina Laubenstein ist Politikwissenschaftlerin und koordiniert seit November 2021 die Marie-Munk-Initiative bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Seit 2016 arbeitet sie zu den Themen digitale Gewalt und Hass im Netz, auf nationaler wie internationaler Ebene.
Kai Dittmann ist Koordinator für Advocacy- und Policyarbeit bei der GFF. Zuvor arbeitete er als Senior Program Manager im Asien-Koordinationsbüro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Singapur, zwischenzeitlich als Senior PR-Consultant bei Scholz & Friends sowie mehrere Jahre in unterschiedlichen Funktionen im Bundestag. Er hält Masterabschlüsse in Systemingenieurswesen von der Ecole Central Paris, in Wirtschaftsingenieurwesen von der Technischen Universität Berlin und in Public Administration von der Harvard University.