Chapeau! Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat mit der „Digitalisierungsstrategie der Arbeits- und Sozialverwaltung“ einen großen Wurf vorgelegt, der in vieler Hinsicht beispielhaft ist: Von der Vision bis zu den Einzelmaßnahmen orientiert sich die Strategie konsequent an den Nutzenden. Der Fokus auf europäische und internationale Kooperation berücksichtigt, dass das Thema soziale Sicherung grenzübergreifende Lösungen erfordert. Und die gemeinschaftliche Zusammenarbeit mit Trägern und Behörden der Arbeits- und Sozialverwaltung bei der Strategieentwicklung ist wegweisend. Einerseits.
Andererseits macht die Strategie zwar nicht an den Landesgrenzen halt, sehr wohl aber an den Ressortgrenzen: Zur europäischen und internationalen Zusammenarbeit werden ambitionierte und konkrete Ziele formuliert und die „gute und intensive Zusammenarbeit“ mit der polnischen Sozialversicherungsanstalt hervorgehoben. Bei der Zusammenarbeit mit den anderen Bundesressorts ist man dagegen eher zurückhaltend: Hier soll lediglich der ressortübergreifende Austausch gestärkt werden, „indem wir unsere Perspektive als Arbeits- und Sozialverwaltung in die Gremien der Verwaltungsdigitalisierung des Bundes einbringen“. Anscheinend fällt es leichter, in Fragen der Digitalisierung mit der polnischen Sozialversicherung zu kooperieren als mit den anderen Bundesministerien.
Zersplitterte Zuständigkeiten zulasten der Bürger:innen
Aufgrund der Beschränkung auf den Geschäftsbereich des BMAS lässt die Strategie die zentrale strukturelle Schwäche der Sozialverwaltung außer Acht: Das Sozialleistungssystem in Deutschland liegt nicht vollständig in der Zuständigkeit des BMAS. Es ist vielmehr ein fragmentiertes System interdependenter Sozialleistungen in unterschiedlicher Zuständigkeit (vom BMAS über BMFSFJ und BMWSB bis zum BMF) für das im Vollzug eine Vielzahl unterschiedlicher Bundes-, Landes- und Kommunalbehörden zuständig ist.
Aus Perspektive vieler Menschen, die auf diese Leistungen angewiesen sind, stellt sich dieses System als kafkaeskes Labyrinth aus verschiedensten voneinander abhängigen Leistungen dar. In diesem Labyrinth müssen sie eine Vielzahl von Anträgen bei unterschiedlichen Behörden stellen und dabei jedes Mal die gleichen Nachweise einreichen; Abstimmungsprobleme zwischen den Behörden führen zu monatelangen Bearbeitungszeiten; und keine Stelle kann ganzheitlich Auskunft geben, auf welche Leistungen man eigentlich Anspruch hat. Die Anzahl der Menschen, die vor diesem System kapitulieren und auf ihre Ansprüche verzichten, ist skandalös hoch: Im Bereich der Grundsicherung etwa nehmen laut Studien etwa ein Drittel bis zwei Drittel aller Leistungsberechtigten ihnen zustehende Leistungen nicht in Anspruch.
In diesem Gestrüpp aus Leistungen, Zuständigkeiten, Datensilos und Begrifflichkeiten (versuchen Sie einmal herauszufinden, wie sich Ihre Bedarfsgemeinschaft von Ihrer Haushaltsgemeinschaft unterscheidet) müssen die positiven Effekte der Digitalisierung eines Teilbereichs zwangsläufig versanden. Angesichts der zersplitterten Zuständigkeiten hätten Leistungsberechtigte neben der in der Digitalisierungsstrategie angekündigten Bürgergeld-App noch eine Kindergrundsicherungs-App und eine Wohngeld-App auf Ihrem Smartphone, in die sie die immergleichen Nachweise hochladen. Effizienzgewinne bei der Antragsbearbeitung der einen Behörde würden aufgefressen, weil zur Fertigstellung noch der Bescheid der überlasteten anderen Behörde abgewartet werden muss. Und nicht die Daten laufen zwischen den verschiedenen Sozialbehörden, sondern die Bürger:innen.
Das Sozialleistungssystem muss neu aufgestellt werden
Um dieses zersplitterte System nutzendenorientiert zu verändern, wäre eine umfassende Neugestaltung des Sozialleistungssystems notwendig, die unabhängig von Ressortzuständigkeiten den Gesamtzusammenhang in den Blick nimmt und mutig aus Perspektive der Leistungsberechtigten umbaut.
Ein erster Schritt könnte darin bestehen, einen einheitlichen, lebenslagenorientierten Zugangspunkt zu allen Leistungen zu schaffen, verbunden mit einer ganzheitlichen Beratung, die darüber aufklärt, welche Leistungen mir in meiner konkreten Lebenslage eigentlich zustehen.
Langfristig geht es aber um eine grundlegende Reform des Sozialleistungssystems, die die fragmentierten Leistungen konsolidiert und bündelt, Ressortzuständigkeiten hinterfragt und das Verhältnis von zentraler und lokaler Aufgabenbearbeitung neu definiert. Solch ein Umbau ist ambitioniert, aber möglich: Sowohl der Normenkontrollrat als auch der wissenschaftliche Beirat des BMF haben bereits Reformvorschläge vorgelegt. Auch der Koalitionsvertrag verspricht, eine Reform auf den Weg bringen, die Sozialleistungen besser aufeinander abstimmt und wo möglich zusammenfasst.
In einem solcherart umgebauten Sozialleistungssystem könnte die Digitalisierung ihr Potenzial voll entfalten: Das Once-Only-Prinzip würde zum Abbau der Nachweispflichten genutzt, automatisch bearbeitete Regelfälle würden Ressourcen für die persönliche Beratung komplexer Einzelfälle freimachen und Sozialleistungen könnten den Berechtigten proaktiv und antragslos bewilligt werden.
Politischer Wille ist gefragt
Ist das alles nur ein Spezialproblem der Sozialverwaltung? Keinesfalls! Die digitale Transformation der Verwaltung kann insgesamt ihr Potenzial nur dann vollständig entfalten, wenn sie, statt bei Onlinezugang und Ende-zu-Ende-Digitalisierung stehenzubleiben, in einen umfassenden regulativen und organisatorischen Umbau eingebettet ist. Dieser Umbau muss staatliche Leistungen und Verwaltungshandeln konsequent aus Perspektive der Bürger:innen einerseits und digitaler Möglichkeiten andererseits neu denken.
Der Bereich der sozialen Sicherung könnte als Beispiel für diese digitale Neugestaltung vorangehen. Dafür reicht eine Digitalisierungsstrategie allerdings nicht aus. Es braucht politischen Willen, das zersplitterte Sozialleistungssystem aus Perspektive der Leistungsberechtigten neu zu ordnen. Das wäre ein Riesenschritt auf dem Weg zu einem bürger:innenorientierten digitalen Sozialstaat.
Florian Theißing ist promovierter Informatiker und beschäftigt sich als Innovation Lead bei der Agora Digitale Transformation mit der Frage, wie die Digitalisierung für ein besseres Regierungs- und Verwaltungshandeln genutzt werden kann.