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Digitalisierung & KI

Standpunkte Licht in den Patent-Dschungel bringen

Nikolaus Thumm, assoziierter Wissenschaftler der TU Berlin
Nikolaus Thumm, assoziierter Wissenschaftler der TU Berlin Foto: Foto: privat

Bei Patenten fürs Internet der Dinge braucht es mehr Transparenz, meint der frühere Chef-Volkswirt des Europäischen Patentamtes. In seinem Gastbeitrag setzt sich Nikolaus Thumm für ein europäisches Prüfsystem für „Standard Essentielle Patente“ ein.

von Nikolaus Thumm

veröffentlicht am 05.03.2021

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Die aktuellen Patentstreitigkeiten zwischen Nokia und Daimler haben Aufsehen erweckt. Der Streit um die Nutzung von Mobilfunkstandards wurde an verschiedenen deutschen Gerichten behandelt und zuletzt sogar vom Landgericht Düsseldorf an den Europäischen Gerichtshof verwiesen. Es zeichnet sich eine richtungsweisende Entscheidung für den gesamten Bereich Internet der Dinge (IoT) ab (Tagesspiegel Background berichtete). Aber worum geht es hier? Und welche Bedeutung hat dieser Fall für die Automobilindustrie und deren Zulieferer? Welche Lehren sind aus diesem und ähnlichen Fällen für die Rahmengesetzgebung der Europäischen Politik für Patente im IoT zu ziehen?

Heutzutage muss jeder Technologieanwender, der auf IoT-Technologiestandards zugreift, Tausende als „Standard Essentielle Patente“(SEPs) deklarierte Patente überprüfen, um herauszufinden, ob diese für seine Produktentwicklung relevant sind und ob diese Patente tatsächlich wesentlicher (essentieller) Bestandteil des relevanten technischen Standards sind. Nur so kann er letztendlich beurteilen, von welchen SEP-Inhabern er möglicherweise Lizenzen benötigt. Dies erhöht die Transaktionskosten, da jeder, der einen Standard nutzen möchte, potentiell sein SEP-Risiko für die standardkonformen Produkte bewerten muss, ehe er diese auf den Markt bringen kann. Von weiteren Kosten, wie Lizenzgebühren und Verhandlungs- und Gerichtskosten ist hier noch nicht die Rede.

Mehr als die Hälfte der als SEPs deklarierten Patente ist gar nicht wesentlich

Laut einer Studie der IPlytics GmbH und der TU Berlin im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums gibt es fast 100.000 deklarierte SEPs für den 5G-Standard, die zu mehr als 20.000 Patentfamilien gehören. Ein Anwender müsste untersuchen oder von einer spezialisierten Kanzlei untersuchen lassen, welche Patente davon wirklich wesentlich sind und welche von diesen für sein eigenes Produkt- oder Serviceangebot relevant sind. Da geschätzt circa 50 bis 75 Prozent der deklarierten SEPs nicht essentiell sind für die Umsetzung des Standards, ist die Überprüfung für jeden Anwender sehr kostspielig. Gerade für junge Firmen, die neue IoT-Lösungen anbieten, sind die Zugangsbarrieren enorm. Ihnen fehlt die Erfahrung im Umgang mit Patenten und Lizenzen.

Viele Technologieanwender vermeiden daher den mühsamen und kostspieligen Prozess der Überprüfung, und warten stattdessen ab, welche SEP-Eigentümer sich im Laufe der Zeit an sie wenden, um Lizenzgebühren zu verlangen. Oftmals werden diese Gebühren in Geschäftsplänen nicht vorab berücksichtigt und reduzieren dann entsprechend die Gewinnmarge. Möglicherweise betreffen die Gebühren auch die Vergangenheit, da bereits mit dem Verkauf der relevanten Produkte begonnen wurde. Dies ist kann dann auch ein Grund sein, warum Lizenzverhandlungen bewusst in die Länge gezogen werden (das sogenannte „Hold-out“). Auch für die mächtige Autoindustrie sind Lizenzfragen, die Patente für Standards betreffen, ein relativ neues Problem. Nun streiten Mobilfunkanbieter, Autobauer und Zulieferer darum, wie viel die Nutzung der Mobilfunktechnik im Auto wert ist und wer die Lizenzgebühren bezahlen muss.

Es gibt viel mehr Standards und mehr Anwender

Die bestehenden Rahmenbedingungen für den Umgang mit SEPs  – etwa die Richtlinien des „Europäischen Telekommunikations-Standard-Instituts“ (ETSI) – wurden zu einer Zeit definiert, als technische Standards von wenigen Unternehmen aus einer Branche entwickelt und zugleich angewendet wurden. Diese Firmen haben sich dann traditionell gegenseitig Kreuzlizenzen eingeräumt. Doch inzwischen gibt es viel mehr technische Standards und vor Allem viel mehr SEPs pro Standard. Außerdem gibt es neue SEP-Eigentümer mit ganz unterschiedlichen Geschäftsmodellen. Die Lizensierungspraxis wird immer unübersichtlicher.

Auch die Technologien werden komplexer. Standards werden inzwischen von zahlreichen Branchen in ganz unterschiedlichen Geräten und Dienstleistungen verwendet. Die Anwendung der verschiedenen Konnektivitätsstandards in den IoT-Branchen ist ein wichtiges Beispiel dieser Entwicklung.

Konnektivitätsstandards spezifizieren die Kerntechnologien, die das Internet der Dinge ermöglichen. Sie stellen sicher, dass verschiedene kompatible Geräte innerhalb der verschiedenen IoT-Branchen wie Automotive, Energie, Gesundheitswesen und Landwirtschaft miteinander kommunizieren können. Diese und viele andere Technologiestandards werden von Unternehmen spezifiziert, die an Standardisierungsprozessen beteiligt sind und bereit sind, die neuesten Technologien aus ihren Labors zur Verfügung zu stellen.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daran zu erinnern, warum SEP-Erklärungen überhaupt angefordert wurden. Der Hauptzweck von Erklärungen besteht darin, Gewissheit zu geben, dass die standardisierte Technologie (potenziellen) Anwendern zugänglich sein wird, in der Regel unter der Verpflichtung zu sogenannten FRAND-Bedingungen (Fair, Reasonable And Non-Discriminatory).Viele SEP-Lizenzgeber argumentieren, dass dieses System seit Jahrzehnten gut funktioniert und nicht geändert werden sollte.

Dieser Ansatz berücksichtigt aber nicht die teilweise sehr hohen Transaktionskosten, die für alle Beteiligten entstehen. Ein Regulierungsansatz, der auf Transparenzerhöhung und Senkung der Transaktionskosten abzielt, wäre wünschenswert. Die zentralisierte Überprüfung der Essentialität von SEPs könnte ein wesentlicher Bestandteil eines solchen Ansatzes sein. Es hätte viele Vorteile, wenn klar erkennbar wäre, welche SEPs tatsächlich essentiell für einen technischen Standard sind. Dies würde wesentlich dazu beitragen, die SEP-Exponiertheit eines bestimmten Produktes zu klären und somit Lizenzverhandlungen und Patentstreitigkeiten zu erleichtern.

Europäische Kommission will mehr Transparenz schaffen

In ihrem IP-Aktionsplan vom November 2020 erwähnt die Europäische Kommission die Einrichtung eines unabhängigen Systems zur Überprüfung der Essentialität von SEPs. Eine Pilotstudie der Europäischen Kommission bestätigt die technische und institutionelle Durchführbarkeit einer solchen Überprüfung. Wie ein solches System zu gestalten wäre, diskutiert die Kommission derzeit mit allen Beteiligten (EC workshops). In einem Beitrag für das Fachmagazin „Intellectual Asset Management magazine“ haben Ruud Peters und ich bereits einen 6-Punkte-Plan vorgestellt, wie ein Prüfsystem im Detail umgesetzt werden könnte:

  • Patentämter und Gutachter, die von Patentpools verwendet werden, sind am besten für die Durchführung von Essentialitätsprüfungen geeignet.
  • Eine Essentialitätsprüfung sollte den Status eines Gutachtens einer vertrauenswürdigen Behörde haben.
  • Überprüfungen sollten einen globalen Anspruch haben, müssen jedoch nicht für jedes Patent in einer Patentfamilie durchgeführt werden.
  • SEP-Inhaber sollten die Kosten tragen, da sie am meisten davon profitieren.
  •  Es sollten Anreize für die Inanspruchnahme der Essentialitätsprüfungen geschaffen werden.
  • Die Europäische Kommission sollte ihre führende Rolle in der SEP-Debatte behalten und weiterführen.

Die einzelnen Punkte und deren Begründung sind im Detail im Artikel beschrieben. Ziel ist es, die Transparenz bei Lizenzverhandlungen zu erhöhen, die Rechtssicherheit zu verbessern und die Prozesskosten zu senken. Diese aktuelle europäische Diskussion findet globale Beachtung und kann richtungsweisend für andere Regionen der Welt sein. Wenn die Europäische Union über Europa hinaus Verfahren für mehr Transparenz anregt, wäre das auch im Interesse der Europäischen Industrie.

Nikolaus Thumm ist assoziierter Wissenschaftler im Fachbereich Innivationsökonomie an der Fakultät für Wirtschaft und Management der Technischen Universität Berlin. Zuvor war er für die Europäische Kommission im Bereich digitale Patente tätig sowie für das Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb. Bis 2013 war er Chef-Volkswirt des Europäischen Patentamts in München. 

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