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Digitalisierung & KI

Standpunkte Raus aus der digitalen Bedeutungslosigkeit

Ex-Manager Thomas Middelhoff (l.) & Tech-Investor Cornelius Boersch (r.)
Ex-Manager Thomas Middelhoff (l.) & Tech-Investor Cornelius Boersch (r.)

Die Krise hat unsere digitalen Defizite schonungslos offengelegt – auch die Versäumnisse der Nullerjahre. Doch die Antworten auf die Krise zeigen auch, dass das Umdenken noch nicht stattgefunden hat. Mit welchen zehn Punkten Deutschland die digitale Aufholjagd aufnehmen muss, schreiben Ex-Manager Thomas Middelhoff und Tech-Investor Cornelius Boersch im Standpunkt.

von Thomas Middelhoff und Cornelius Boersch

veröffentlicht am 20.11.2020

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Bereits seit langer Zeit ist es klar: Deutschland ist ein Dinosaurier im internationalen Vergleich des Digitalisierungsgrades der Nationen. Während des Covid-19-Lockdowns traten die Defizite im gesamten digitalen Bereich unseres Landes deutlich sichtbar zu Tage: unzureichende Serverkapazitäten, veraltete Hardware, insbesondere an Schulen, mangelnde Kapazitäten für den digitalen Einkauf von Lebensmitteln, ungenügende Netzabdeckung oder die zeitlich verzögerte Übertragung kritischer Daten zur Infektionsentwicklung durch die Gesundheitsämter an das RKI per Fax (!) sind hierfür nur einige wenige erschreckende Beispiele.

Folgen des „verlorenen Jahrzehnts“?

Diese Fakten der unzureichenden Digitalisierung unseres Landes sollten Politik und Wirtschaft nicht überraschen. Der Digital Economy and Society Index (DESI) misst verschiedene Dimensionen der Digitalisierung innerhalb Europas: Connectivity, Human Capital, Use of Internet Services, Integration of Digital Technology und Digital Public Services. Über alle Kategorien gesehen schneiden Finnland, Schweden und die Niederlande am besten ab; auf Platz vier liegt Dänemark, Estland auf Platz acht, Belgien auf Platz neun und Spanien auf Platz elf. Die Bundesrepublik, eine der – noch – führenden Wirtschaftsnationen der Welt, liegt bei diesen Kriterien weit abgeschlagen auf Platz zwölf – wohlgemerkt ist dies „nur“ ein europäischer Vergleich.

Alle verfügbaren Daten belegen, dass Deutschland, vor allem in den Jahren von 2000 bis 2010, den digitalen Anschluss an Länder wie die USA und China verpasst hat – ein Jahrzehnt, in dem Unternehmer, Manager, Investoren und allen voran die konservativen Politiker in Berlin glaubten, das Rad der technologischen Entwicklung wieder zurückdrehen zu können. Für diesen Sachverhalt haben wir den Begriff des „verlorenen Jahrzehnts“ geprägt.

Konservative haben ihren Auftrag verfehlt

Die konservative Wirtschaftspolitik hat offensichtlich in den letzten beiden Jahrzehnten nicht das leisten können oder wollen, wofür der Begriff „konservativ“ eigentlich steht, nämlich für Kontinuität bei der technologischen und wirtschaftlichen Zukunftssicherung Deutschlands zu sorgen. Stattdessen wird, wie zu Zeiten der DDR-Planwirtschaft, an alten Industriestrukturen festgehalten, für die keine Zukunft mehr besteht. Das ist heute schon deutlich erkennbar. Wir befürchten, dass durch diese politisch gewollte und gesellschaftlich anscheinend weitestgehend akzeptierte Fehlsteuerung die nachfolgenden Generationen mit der Abzahlung von Hypotheken auf die Zukunft belastet werden, ohne dass man sie heute fragt, ob sie diese Subventionen überhaupt befürworten.

Diese werden zurzeit verteilt, als gäbe es ein Füllhorn, für das niemand später einmal den Gegenwert erwirtschaften muss. Die finanzielle Rettung von Adidas durch den Staat im Umfang von drei Milliarden Euro steht auch bei volkswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Überlegungen in keinem Verhältnis zu den zwei Milliarden Euro, die allen deutschen Start-ups als Hilfe vom Staat in Aussicht gestellt wurden. Wir verstehen nicht, wo für den deutschen Steuerzahler eine Systemrelevanz von Adidas gegeben sein soll, wenn von dem Konzern in Deutschland lediglich 7.500 Arbeitsplätze unterhalten werden und ein Großteil der Aktien in der Hand ausländischer Investoren liegt.

Digitalisierung ist alternativlos

Statt solche fragwürdigen Hilfen durch den Staat zu verteilen, ergeben sich heute angesichts der mit Covid-19 verbundenen nachhaltigen Veränderungen in der Wirtschafts- und Arbeitswelt und auch beim Konsum einmalige Gestaltungschancen für die Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik. Wie so oft gilt auch bei einer genauen Beurteilung des politischen Engagements für die bisherigen Corona-Hilfen: „Gut gemeint, schlecht gemacht!“

Wir verfügen über keine sinnvollere Alternative als den konsequenten Einsatz der Digitalisierung: für die Form, wie wir zukünftig arbeiten und leben (Homeoffice), für die damit verbundene Entlastung unserer Umwelt (Nahverkehr, Pendler), für unsere Kommunikation (digital statt Print), aber auch für das Wachstum unserer Wirtschaft, für die Schaffung zukunftsträchtiger Arbeitsplätze und für die Sicherung unserer internationalen Wettbewerbskraft. In den USA – und in China sowieso – versteht man diese Krise zugleich als einmalige Chance, die Digitalisierung des Landes noch schneller voranzutreiben. Hier fehlt uns Deutschen leider oftmals der Mut und die Kreativität.

Wie Deutschland zurück an die Spitze kommt

Nach unserer Auffassung bedarf es der Umsetzung eines klar definierten Maßnahmenprogramms, um Deutschland schnell wieder dahin zu führen, wo es nach unserem Verständnis eigentlich hingehört: in die Gruppe der digital führenden Wirtschaftsnationen.

Hierfür haben wir einen „10-Punkte Plan“ entwickelt, der sicherstellen soll, dass sich die Bundesrepublik bis zum Jahr 2030 zu einer der führenden digitalen (Wissens-)Nationen entwickelt. Dieser umfasst die Bildung des „Deutschen Digitalen Entwicklungsfond“, der mit 100 Milliarden Euro dotiert ist, bis hin zu der Entwicklung neuer Bildungsleitlinien für Schulen, berufliche Ausbildung und Universitäten. Die Schaffung eines „Ministeriums für Digitales, Verkehr, Netze, Wissenschaft, Bildung, Forschung und Technologie“, unter dessen Dach die für die Sicherstellung unserer digitalen Zukunft notwendigen Bereiche gebündelt werden, zählt ebenso dazu wie die Förderung einer besseren Zusammenarbeit zwischen Universitäten, Start-ups und Großkonzernen sowie der Aufbau weiterer Inkubationszentren oder die europaweit koordinierte Zusammenarbeit bei der Technologieentwicklung. Letzteres ist insbesondere wichtig vor dem Hintergrund der Besteuerung von US-Tech-Konzernen auf europäischer Ebene sowie der Prüfung kartellrechtlicher Schritte gegen Amazon, Google und Facebook.

Aktuell profitieren wir noch von der Schubkraft veralteter deutscher Schlüsselindustrien wie der Automobilbranche. Diese werden zukünftig jedoch international keine große Rolle mehr spielen. Der Umstand, dass bereits heute, eine amerikanische Tech-Firma allein (zum Beispiel Amazon, Apple oder Microsoft) mehr wert ist als der gesamte DAX, kann nicht unser Anspruch sein. Ebenso kann das Ziel nicht sein, dass Tesla allein mehr wert ist als die gesamte deutsche Autoindustrie. Wir müssen radikal umdenken, haben aber immer noch vor allem ein Erkenntnisproblem (kein Umsetzungsproblem).

Als Gesellschaft müssen wir eine Debatte darüber führen, womit wir in Zukunft unser Geld verdienen wollen. Wenn wir nicht bereit sind, uns einzugestehen, dass wir unsere Wirtschaft, die Zusammensetzung der Aufsichtsräte (Alter, Geschlecht, kultureller Hintergrund), unsere Risikobereitschaft, Einstellung zum Unternehmertum und zu punktuellem Scheitern, grundlegend ändern müssen, wird sich dieser Abwärtstrend fortsetzen. Unsere Zukunftsfähigkeit hängt davon ab, dass wir den Anschluss an die amerikanische und chinesische Weltspitze im digitalen Bereich schaffen, wenn wir als Wirtschaftsnation künftig noch eine Rolle spielen wollen. Dies sind wir ganz besonders den nachfolgenden Generationen in Deutschland schuldig.

Thomas Middelhoff ist ein ehemaliger Manager, von 1998 bis 2002 war er Vorstandsvorsitzender des Medienkonzerns Bertelsmann und von 2004 bis 2009 des Einzelhandelskonzerns Arcandor. Cornelius Boersch ist ein Tech-Investor und Gründer der Mountain Partners AG. Zusammen haben sie das Buch „Zukunft verpasst? Warum Deutschland die Digitalisierung verschlafen hat. Und wie uns die Krise hilft, den Anschluss doch noch zu schaffen.“ veröffentlicht. 

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