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Digitalisierung & KI

Standpunkte Regieren braucht Datenwissenschaft

Alex C. Engler, derzeit Mercator Senior Fellow
Alex C. Engler, derzeit Mercator Senior Fellow Foto: Brookings Institution

Die Bundesregierung baut derzeit Datenlabore auf und will Data Science im Regierungshandeln etablieren. Warum diese Investition nicht nur notwendig, sondern vorausschauend ist und auf welche Aufgaben die Datenlabore sich konzentrieren sollten, schreibt Alex C. Engler, Senior Fellow der Stiftung Mercator.

von Alex C. Engler

veröffentlicht am 24.03.2022

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In einem beeindruckenden Manöver in letzter Minute hat die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dafür gesorgt, dass eine ihrer letzten technologiepolitischen Errungenschaften auch in der neuen Koalition fortbestehen wird. Im deutschen Plan Etat des europäischen Konjunkturprogramms sind 239 Millionen Euro dafür vorgesehen, ein neues Datenlabor in jedem Bundesministerium sowie das Datenlabor des Kanzleramts zu finanzieren, das von Merkels Nerd-in-Chief Kirsten Rulf eingerichtet wurde. Damit ist sichergestellt, dass dieses neue Experiment auch in der Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) fortbestehen wird. Das war ansonsten unsicher, da andere digitale Themen aus dem Kanzleramt heraus delegiert wurden.

Wie kann Deutschland also diese neue Investition in die Datenwissenschaft („Data Science“) am besten nutzen? Wie kann Deutschland seine Regierungsarbeit mit Daten modernisieren, seine staatlichen Dienstleistungen verbessern, eine bessere Politik machen und auf neue technologische Bedrohungen reagieren? Dies sind wichtige Fragen, die ich in einem neuen Papier der Brookings Institution über die Institutionalisierung der Datenwissenschaft in der deutschen Verwaltung untersuche.

Warum die Regierung das Datenzeitalter nicht verschlafen darf

Natürlich ist die Verwendung von Daten in der Regierung nicht neu. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. gründete 1805 das „Königlich Preußische Statistische Bureau“. Doch bieten Fortschritte bei datenbasierten Technologien, insbesondere bei der Künstlichen Intelligenz, gepaart mit den milliardenschweren Investitionen der Regierung in die Digitalisierung, neue Möglichkeiten für die Nutzung von Daten in der Verwaltung.

Neben dem Potenzial gibt es aber auch neue Herausforderungen. Der rasante Fortschritt der Technologien im privaten Sektor steht in krassem Gegensatz zu veralteten staatlichen Dienstleistungen, die das Vertrauen in öffentliche Einrichtungen untergraben können. Und wenn die Regierungen keine Fachkenntnisse in der Datenwissenschaft entwickeln, werden sie ihre wichtige Rolle bei der demokratischen Kontrolle von Technologieunternehmen aufgeben.

Nicht alles ist schlecht

Ein Blick auf einige internationale Indizes der Europäischen Kommission, der OECD und der Vereinten Nationen gibt Anlass zur Besorgnis: Sie deuten darauf hin, dass Deutschland unter den wohlhabenderen Ländern im Mittelfeld (oder noch schlechter) liegt und bei digitalen Behördendiensten besonders schlecht abschneidet. Dies sind wichtige Warnzeichen, aber sie spiegeln nicht genau die Realität der deutschen Kapazitäten im Bereich der Datenwissenschaft wider, die in einigen Bereichen hinterherhinken und in anderen führend sind.

So verfügt Deutschland beispielsweise über bewundernswerte Fähigkeiten im Bereich der antizipatorischen Governance, bei der versucht wird, die Auswirkungen potenzieller politischer Veränderungen abzuschätzen und die Veränderungen künftiger Umstände, wie etwa Migrationsströme oder Hochwasserrisiken, vorherzusehen. In anderen Bereichen wie der Überwachung und Bewertung sind die Ergebnisse eher gemischt. Trotz vieler fähiger Institute außerhalb der Regierung wird die Programmevaluierung – die empirische Analyse der Wirksamkeit von Regierungsprogrammen – nicht so systematisch und routinemäßig durchgeführt wie in einigen anderen Ländern. Ein weiterer Bereich, der Anlass zur Sorge gibt, sind algorithmenbasierte Dienste, bei denen komplexe staatliche Prozesse mithilfe von Maschinellem Lernen oder anderen datengesteuerten Algorithmen ganz oder teilweise automatisiert werden. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage zu algorithmischen Diensten in Bundesministerien ergab, dass nur 79 Systeme im Einsatz sind, und warf auch Bedenken hinsichtlich der Sicherheitsvorkehrungen bei ihrer Implementierung auf.

Außerhalb der Verwaltung verfügt Deutschland über ein beeindruckendes akademisches Ökosystem, etwa auch den Masterstudiengang Data Science for Public Policy an der Hertie School, was erklärt, warum es bei der Verbreitung von KI-Kenntnissen auf Platz 4 von 13 führenden Ländern liegt.

Welchen Fokus die Datenlabore haben sollten

Wo wird also tatsächlich Hilfe benötigt, wenn Deutschland seine neuen Datenlabore einrichtet? Weil Deutschland Nachholbedarf bei der Digitalisierung hat, könnten die Datenlabore der Ministerien durchaus die Orte sein, an denen die nächste Generation von algorithmischen Diensten entwickelt wird. Diese Aufgabe erfordert sowohl datenwissenschaftliches Fachwissen als auch ein gründliches Verständnis der Aufgaben eines Ministeriums. Da einige Ministerien nicht über eine tief verwurzelte datenorientierte Kultur verfügen, könnten die Datenlabore dazu beitragen, den Datenzugang und die Datenkompetenz zu erweitern, und sogar Schulungen anbieten, die auf ministeriumsspezifische Ziele ausgerichtet sind. Im Großen und Ganzen sind die Datenlabore in einer guten Position, um an diesen operativen Herausforderungen zu arbeiten, und sollten andere Datenaufgaben, wie etwa die das Monitoring von Regierungsprogrammen oder den Aufbau von Schnittstellen, anderen, besser geeigneten Behörden überlassen.

Das Datenlabor des Kanzleramts ist unter den Datenlabors einzigartig und sollte einen ganz anderen Ansatz verfolgen – den eines Koordinators für Datenwissenschaft in der Regierung. Um als Koordinator zu fungieren, sollte das Datenlabor des Kanzleramts in die Fähigkeit investieren, schnelle regierungsübergreifende Datenanalysen durchzuführen, um auf Notfallsituationen zu reagieren. New York City hat mit diesem Ansatz Pionierarbeit geleistet, indem es mit Hilfe der Datenwissenschaft auf den Ausbruch der Legionärskrankheit im Jahr 2015 reagiert hat. Inzischen hat das Mayor's Office of Data Analytics (MODA) auch „Datenübungen“ durchgeführt, um Daten schnell in alle Abteilungen der Stadt zu integrieren.

Diese Arbeit würde dem Datenlabor des Bundeskanzlers auch dabei helfen, die strukturellen und bürokratischen Änderungsbedarfe zu ermitteln, die in den ministeriellen Datenlabors erforderlich sind. Die Bedeutung und Notwendigkeit dieser bürokratischen Veränderungen sollte nicht unterschätzt werden. Zivile Technologie und Datenanalyse in den Vereinigten Staaten hat zu grundlegenden Veränderungen geführt, einschließlich schnellerer Beschaffung, neuer Berufsbezeichnungen und möglicherweise sogar zu einem drastisch verbesserten Einstellungsverfahren auf Bundesebene.

Was Deutschland jenseits der Datenlabore tun sollte

Die bewusste Nutzung dieser Datenlabore ist ein wichtiger Schritt, aber es gibt noch weitere, die Deutschland unternehmen kann, um Datenanalysen besser zu institutionalisieren. So sollte die Regierung beispielsweise in Erwägung ziehen, in jedem Ministerium einen leitenden Evaluierungsbeauftragten („Chief Evaluation Officer“) einzustellen, der vorhandene empirische Erkenntnisse (aus staatlichen und externen Quellen) aktiv in die tägliche Politikgestaltung einbeziehen würde. Deutschland kann auch seine ausgezeichneten akademischen Einrichtungen und den dynamischen Privatsektor nutzen, indem es neue Wege für Talente in die Regierung schafft, etwa durch Analogien zum Civic Digital Fellowship in den USA (für Studierende) oder ein neues Innovationsstipendium des Kanzleramts (für erfahrene Fachleute).

Schließlich würde Deutschland davon profitieren, wenn die Zuständigkeiten für Daten in den vielen relevanten Behörden – darunter ITZBund, der „DigitalService4Germany“, Destatis, das Team der Open-Data-Plattform GovData sowie die geplanten Datenlabore der Ministerien und das potenzielle neue Dateninstitut – klar zugewiesen würden. Dieses Ökosystem ist so komplex, dass diese Agenturen ohne eine Strategie, die die Verantwortlichkeiten klar aufteilt, wahrscheinlich sich wiederholende und überschneidende Kompetenzen aufbauen werden. Diese Strategie, die sich insofern von der Datenstrategie und der KI-Strategie unterscheidet, als sie sich nur auf die Datennutzung durch die Regierung konzentriert, könnte Deutschland auch bei der Planung wichtiger zukünftiger Überlegungen helfen. So braucht es beispielsweise künftig Regulierungsbehörden mit Kompetenzen in der Datenwissenschaft im Rahmen des vorgeschlagenen EU-KI-Gesetzes.

Um eine moderne und fähige Regierung aufzubauen, die das Potenzial der KI optimal nutzen und die Bedrohungen durch neue Technologien eindämmen kann, bedarf es nicht nur intelligenter Beamter, sondern auch eines bewussten und umfassenden Ansatzes zur Institutionalisierung der Datenwissenschaft.

Alex C. Engler arbeitet seit Oktober 2021 als Senior Fellow der Stiftung Mercator zur Rolle Europas und Deutschlands bei der Entwicklung von KI-Governance. Er ist dafür bis einschließlich März 2022 bei der Brookings Institution beurlaubt, wo er normalerweise die gesellschaftlichen Auswirkungen von KI untersucht. Zuvor war er zehn Jahre lang als Data Scientist in verschiedenen Organisationen tätig. Alex Engler ist außerdem außerordentlicher Professor und assoziierter Wissenschaftler an der McCourt School of Public Policy.

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