Der Digital Services Act (DSA) der Europäischen Union ist vielschichtig: Er berührt eine ganze Reihe verschiedener Plattformen, von Hosting-Anbietern über soziale Netzwerke bis hin zu Onlinemarktplätzen. Er unterscheidet zusätzlich zwischen Plattformen und Suchmaschinen bestimmter Größe. Er adressiert so unterschiedliche Themen wie die Meldung illegaler Inhalte, die Transparenz von Onlinewerbung und den Zugang zu Plattformdaten für Forschende.
Die Vielschichtigkeit endet nicht bei den Regeln selbst: Auch die Aufsicht ist auf mehrere Stellen und auf mehreren politischen Ebenen verteilt. Die Kommission wird dafür verantwortlich sein, die Einhaltung der meisten Regeln für sehr große Plattformen (mit mehr als 45 Millionen Nutzenden im Monat) zu überwachen. Darüber hinaus wird es in jedem Mitgliedsland diverse zuständige Behörden geben, die verschiedene Themen des DSA wie Verbraucher:innenschutz, Medienregulierung und Datenschutz abdecken. In föderalen Mitgliedstaaten wie Deutschland betrifft das zudem die Landes- und Bundesebene.
In diesem Wirrwarr aus unterschiedlichen Regeln für unterschiedliche Plattformen in unterschiedlichen Regulierungsfeldern soll jeweils eine Institution pro Mitgliedsland den Durchblick haben: der Koordinator für digitale Dienste („Digital Services Coordinator“, DSC). Dieser DSC nimmt damit eine wichtige Rolle in der umgestalteten europäischen Plattformaufsicht ein. Er muss die einzelnen Behörden in den jeweiligen Mitgliedstaaten koordinieren und den Austausch mit der Kommission sicherstellen. Außerdem soll er Beschwerdestelle für alle Nutzenden sein, Forschungsanträge auf Datenzugang bei Plattformen begutachten und außergerichtliche Streitbeilegungsstellen akkreditieren.
Ein kollaborativer Ansatz für Plattformaufsicht ist Pflicht
In Deutschland buhlen wie erwartet mittlerweile mehrere Behörden um die Rolle des DSC, teils öffentlich, teils hinter den Kulissen (Tagesspiegel Background berichtete). Die Bundesregierung hat angekündigt, im Frühjahr 2023 einen Gesetzentwurf zur Benennung des DSC vorzulegen. Mindestens ebenso wichtig wie die Frage nach dem „Wer?“ sind aber Fragen nach dem „Wie?“: Wie arbeiten verschiedene Behörden zusammen? Wie stellen sie den Austausch mit Wissenschaft und Zivilgesellschaft sicher? Wie können sie Informationen miteinander teilen?
Viel zu leicht geraten solche Fragen beim Wettbewerb um den DSC-Titel aus dem Blick, obwohl es für Behörden gerade nicht darum gehen sollte, den eigenen Machtbereich auszubauen. Egal, wo der deutsche DSC am Ende angesiedelt wird: Gefragt sein werden Kooperation, Austausch und Interdisziplinarität – und nicht die Abgrenzung gegenüber anderen Behörden.
Einige Beispiele beleuchten, warum ein kollaborativer Ansatz für die Plattformaufsicht zwingend nötig ist. Es könnte sein, dass sich beim DSC Beschwerden zu einer Plattform häufen, die es Menschen sehr schwer macht, ihre Datenschutzeinstellungen zu ändern. Solche Fragen zu irreführendem Design („Dark Patterns“) berühren unter anderem Datenschutz und Verbraucher:innenschutz. Der DSC kann hier Fachleute aus diesen Bereichen zusammenbringen, überlegen, wer für welche Aspekte der Frage zuständig ist und gegebenenfalls die Beschwerde selbst bearbeiten.
Geht es bei Beschwerden um Themen, die etwa klar der Medienaufsicht zuzuordnen sind, muss der DSC so gut vernetzt sein und so verlässliche Kommunikationswege haben, dass er die Beschwerden schnell dorthin weiterleiten kann – und bestenfalls weiterhin Ansprechstelle für die Beschwerdeführenden bleibt. Ein anderes Beispiel: Ein Forschungsteam macht darauf aufmerksam, dass eine große deutsche Verkaufsplattform Menschen angebliche Wundermittel gegen COVID-19, die allerdings wirkungslos sind, automatisiert zum Kauf vorschlägt. Der DSC kann Daten der Plattform anfragen, um zu ergründen, inwiefern das Unternehmen solche Gesundheitsrisiken adressiert. Dafür ist interdisziplinäre Expertise gefragt, sowohl von unterschiedlichen Behörden als auch von externen Fachleuten: Es geht um Risikobewertungen und -management, um algorithmische Empfehlungssysteme und Inhaltemoderation sowie um Gesundheitsschutz.
Starker DSA-Fokus auf Datenanalysen erfordert Umdenken
Für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit über Behörden hinweg bieten sich anlassbezogene Projektteams oder „Task Forces“ an, die beim DSC aufgebaut werden sollten. Eine Task Force – etwa zu einem Datenzugangsantrag oder zu irreführendem Design – sollte von DSC-Personal geleitet werden, aber Fachleute aus anderen Behörden umfassen. Ein solche fallbezogene Arbeit über Regulierungsfelder hinweg („cross-regime cooperation“) ist bislang nicht Teil der deutschen Plattformaufsicht. Bestehende Arbeitsweisen müssen überdacht werden, wenn DSC-Projektgruppen Realität werden sollen.
Eine weitere Besonderheit des DSA, die ein Umdenken in der Plattformaufsicht erfordert, ist der starke Fokus auf Datenanalysen. Der DSA wird eine Fülle an Daten generieren, sei es durch Datenzugangsanfragen, Transparenzberichte, Audits oder Verhaltenskodizes. Gerade beim Zugang zu Plattformdaten spielt der DSC eine wichtige Rolle: Er kann selbst Daten anfragen und er muss Anträge von Forschungsteams bewerten. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, den DSC als zentrale, deutschlandweite Forschungs- und Datenanalyseagentur für Onlineplattformen zu etablieren. Er sollte dafür eine gut ausgestatte Stabsstelle für Forschung und Datenanalyse erhalten, die eigene Studien durchführen, sich mit anderen Behörden vernetzen und Forschungsaufträge an externe Teams vergeben kann.
Nur mit einem kollaborativen, datengetriebenen DSC kann Deutschland zu einer starken Plattformaufsicht in der EU beitragen. Beharren Ministerien und Behörden zu sehr darauf, ihre eigenen Zuständigkeiten zu verteidigen, anstatt über den Tellerrand hinauszuschauen, droht der DSC zu einem bloßen Anhängsel einer bestehenden Stelle zu werden. Wird hingegen von vornherein ein Selbstverständnis beim DSC als bestens vernetzte, spezialisierte, datengetriebene Agentur für Plattformaufsicht kultiviert, kann er sich für eine „offene und sichere Onlineumgebung“ einsetzen, wie es der DSA verspricht.
Julian Jaursch ist Projektleiter beim gemeinnützigen Think Tank Stiftung Neue Verantwortung (SNV) in Berlin. Er befasst sich dort unter anderem mit Plattformaufsicht. Heute erscheint sein Papier zum deutschen Koordinator für digitale Dienste (DSC). Darin beschreibt er potenzielle Aufsichtsfälle für den DSC und leitet daraus Empfehlungen ab, unter anderem zur interdisziplinären Arbeitsweise und zur Einbindung externe Expertise durch Fellows und einen Beirat.