Die soziale Marktwirtschaft gilt als Begründerin unseres heutigen Wohlstands und der demokratischen Stabilität. Sie bildet einen Ordnungsrahmen für die Wirtschaft, der möglichst viele an ihren Erträgen teilhaben lässt. Für Bürgerinnen und Bürger und für die vielen klein- und mittelständischen Unternehmen ist ein solcher Rahmen, der auch den fairen Wettbewerb sichert, von überragender Bedeutung.
Die Digitalisierung hat nun in nur wenigen Jahrzehnten Mechanismen und Monopole hervorgebracht, die diesen Wettbewerb außer Kraft setzen. Das ist eine Gefahr für die bislang geltenden marktwirtschaftlichen Spielregeln – und für die Demokratie. Doch ein politisches Konzept, dieser Entwicklung zu begegnen, fehlt.
Im Vorfeld der Bundestagswahl eröffnet sich die besondere Chance, Konzepte digitaler Ordnungspolitik zu diskutieren. Messen lassen müssen sie sich am Grundsatz der Gemeinwohlorientierung und ob sie den Staat als proaktiven Gestalter der Digitalisierung begreifen.
Datenökonomie und Gemeinwohl ist kein Widerspruch
Gemeinwohlorientierung ist die Verständigung auf ein Set an Zielen und Werten, das dem größtmöglichen Teil der Gesellschaft dient, das Lebensqualität und Chancengleichheit verbessert und die Voraussetzungen für nachhaltiges Wirtschaften schafft. Sie ist keine Chiffre für ein Non-Profit-Dogma und staatliche Bevormundung, sondern liegt im wohlverstandenen Interesse eines digitalisierten und datengestützten Wirtschaftssystems, das gesamtgesellschaftlichen Interessen von vornherein Priorität einräumt.
Der Staat hat in diesem Modell die Aufgabe, mit Anschubinvestitionen Grundlagen für Innovationen zu schaffen, wenn wirtschaftliche Akteure es nicht können oder wollen. Er muss Pionierarbeit im digitalen Neuland leisten. Die Gründung einer Sprunginnovationsagentur, das Aufsetzen von Förderprogrammen und Investitionen in Digitalisierungsmaßnahmen sind Schritte in die richtige Richtung, reichen aber nicht aus. Wenn nur fünf Prozent der Mittel abgerufen wurden, die beispielsweise im Programm „Digital jetzt!“ des Bundeswirtschaftsministeriums zur Verfügung stehen, drückt der Schuh woanders.
Digitale Ordnungspolitik ist unser stärkster Hebel
Die öffentliche Hand muss also selbst zum Vorreiter werden. Die flächendeckende und umfangreiche Bereitstellung von Open Data wäre ein integraler Bestandteil dessen. Leider enthält die dazugehörige Strategie der Bundesregierung keine klaren Standards und gesetzlichen Pflichten zur Bereitstellung bestimmter Daten. Auch über öffentliche Auftragsvergabe können die Weichen in Richtung Gemeinwohl gestellt werden – sowohl durch Anreize wie durch Sanktionsmöglichkeiten, wie im geplanten Wettbewerbsregister angelegt. Eine mittlerweile nicht mehr nachzuvollziehende Peinlichkeit auf internationaler Ebene ist der schleppende Ausbau der digitalen Infrastruktur, die Basis für gleichberechtigten Marktzugang. Hier lässt der Staat seine kleineren und mittleren Unternehmen in vielen Regionen seit Jahrzehnten im Stich – und im internationalen Wettbewerb benachteilt. Hier sind in jedem Fall massive Investitionen in die digitale Infrastruktur nötig.
Um den Staat zum Förderer sozial- und gemeinwohlorientierter Marktinnovation zu machen, bleibt die digitale Ordnungspolitik der stärkste Hebel. Staatliche Regulierung ist bislang für viele ein Synonym für Wettbewerbseinschränkung und Innovationshemmnisse. Zu Unrecht. Auf wesentlichen, vor allem netzbasierten Märkten mit hohen Einstiegshürden wie Energie, Transport und Kommunikation hat sie Wettbewerb erst ermöglicht. Die Erschwerung von Oligopolen und die Verhinderung von Monopolen ist auch in der Datenökonomie prioritär.
Die nächste Bundesregierung muss sich beweisen
Wenn all diese Instrumente für eine gemeinwohlorientierte Datenökonomie greifen, werden viele Unternehmen das urbar gemachte Neuland aktiver als bisher bewirtschaften und auch ihre Zurückhaltung gegenüber gemeinschaftlicher Datennutzung und -teilhabe ablegen. Neue Wertschöpfungsketten und Geschäftsfelder werden in Zukunftsfragen wie Klimaschutz und Mobilität entstehen, die darüber hinaus unser Leben auch sicherer und nachhaltiger machen werden. Das Spannungsverhältnis in der Verwendung von unternehmensgenerierten Daten, dem legitimen Interesse der Allgemeinheit und der Verhinderung von Datenmonopolen würde sich verringern. Mit der gewonnenen Rechtssicherheit, mehr infrastruktureller Verlässlichkeit und einer neuen Befähigungsstruktur ließe sich mehr Pioniergeist freisetzen.
Komplexe Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft, Staat, Wissenschaft und Zivilgesellschaft setzt letztlich verlässliche Datenumgebungen voraus, wie sie Datentreuhänder bereitstellen können. In der Praxis läuft ihre Etablierung aber schleppend. Rechtsunsicherheit und hohe Komplexität verzögern die Umsetzung. Breitere Forschung zur Verfügbarmachung und Anonymisierung von Daten, Zertifizierungen sowie eine Anreiz- und Ermöglichungsstruktur für neue Modelle für Datenintermediäre könnten Abhilfe schaffen.
Um solch eine komplexe und dynamische Entwicklung ordnungspolitisch zu begleiten und steuern, bedarf es einer systemischen, langfristigen Vision von politischer Seite. Eine zukunftsfähige Regulierung muss vier Kernbereiche gleichermaßen im Blick haben: das Kartellrecht, den Datenschutz, den Datenzugang und den Klimaschutz. Die Spielregeln für eine gemeinwohlorientierte Digitalisierung und Datenökonomie dürfen nicht statisch sein, sondern müssen sich – wie das zu regulierende Feld – kontinuierlich weiterentwickeln. Die nächste Bundesregierung kann beweisen, dass von ihr ein solches Update ausgeht.
Ellen Ueberschär ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung und Leiterin des Wirtschaftskreises Digitale Ordnungspolitik der Heinrich-Böll-Stiftung. Philipp Sälhoff ist Geschäftsführer von Polisphere, einem Ideenlabor und Beratungsnetzwerk für Politikbetrieb im digitalen Wandel, und Mitglied im Wirtschaftskreis Digitale Ordnungspolitik der Heinrich-Böll-Stiftung.