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Digitalisierung & KI

Standpunkte Wissenschaftsverlage haben endlich ausgedient

Björn Brembs, Professor für Neurogenetik an der Universität Regensburg
Björn Brembs, Professor für Neurogenetik an der Universität Regensburg

Das aktuelle wissenschaftliche Verlagswesen liegt im Argen, argumentiert Björn Brembs von der Universität Regensburg. Ein Beschluss des EU-Rats vom Mai könnte als Startschuss für ein neues Modell in öffentlicher Hand dienen, meint er. Dabei würden die Bewertung von Forschung, offene Standards und eine robuste Governance zentrale Rollen spielen.

von Björn Brembs

veröffentlicht am 19.07.2023

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Vermutlich hat kaum eine Wissenschaftler:in die am 23. Mai veröffentlichte Pressemitteilung des EU-Rats gelesen, geschweige denn die dort vorgestellten Beschlüsse. Und das, obwohl noch am gleichen Tag zehn große europäische Wissenschaftsorganisationen sowie die größte und wichtigste Forschungsförderin in Deutschland, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Beschlüsse einhellig begrüßten. Auch der wichtigsten Wissenschaftszeitschrift, der britischen Nature, war der Beschluss einen Nachrichtenartikel wert – auch dort nur Lobesworte. Bei so viel Zuspruch hat der Rat offensichtlich etwas für die Wissenschaft ungemein Wichtiges beschlossen. Worum ging es?

Die einzigen kritischen Stimmen zu den Ministerratsbeschlüssen kamen vonseiten der Verlage, was die Frage beantwortet: Seit Jahrzehnten haben sich diese Konzerne kuckucksgleich im globalen Wissenschaftsbetrieb so eingenistet, dass sie jedes Jahr mehr als 10 Milliarden Euro erlösen können, ohne selbst adäquate Gegenleistungen erbringen zu müssen. Endlich hat der Rat nun der Wissenschaft – und den eigenen Haushältern – einen Rettungsring zugeworfen. Er verlangt, dass Kommission und Mitgliedstaaten den Aufbau einer digitalen Informations-Infrastruktur fördern sollen. Diese soll interoperabel und gemeinnützig sein, auf Open-Source-Software basieren und offene Standards nutzen. Sie soll nicht mit proprietären Dienstleistern, dafür mit der European Open Science Cloud verbunden sein. Gebühren soll es nicht geben.

Von Monopol zu Markt

Da sie keinen einzigen Punkt in dieser Checkliste abhaken können, fürchten Sprecher:innen der Konzerne nun, dass hier eine Industrie abgewickelt werden soll. Allerdings handelt es sich um eine Industrie, die zu fast 80 Prozent von der öffentlichen Hand lebt und seit Jahrzehnten in den Marktanalysen der EU als monopolistisch eingestuft wird. Der Ministerrat folgt hier also nicht nur der Wissenschaft, sondern auch den eigenen Marktanalysen: Es bietet sich die Gelegenheit, die historisch gewachsenen Monopole aufzubrechen und einen echten Markt zu schaffen.

Wie genau das funktionieren kann, zeigt das Konzept „Replacing Academic Journals“: Es braucht eine wirksame Regulierung, damit der geschaffene Markt bestehen bleibt und der Wissenschaft gesichert ein dezentrales, resilientes und entwicklungsfähiges Netzwerk unter eigener Regie zur Verfügung steht. Das, was seit einigen Jahren in der Politik „digitale Souveränität“ heißt, ist auch für moderne wissenschaftliche Infrastrukturen ein zentrales Anliegen.

Das Konzept geht dabei auch deutlich über den Ersatz der überkommenen Zeitschriften hinaus. Die Verlage haben sich nämlich an den großen Plattformen orientiert und durch unzählige Übernahmen ein Ökosystem von Werkzeugen zusammengetragen, das alle Etappen der wissenschaftlichen Arbeit umfasst: von der Informationssuche über elektronische Laborbücher bis zu Informationssystemen und der Wissenschaftssteuerung. Das hat zwei Vorteile: die aus diesen Werkzeugen extrahierten Nutzerdaten und die Ausweitung des eigenen Monopols bei der Veröffentlichung auf den gesamten Workflow. Der Rat greift diese Bedrohung explizit auf. Auch für „Replacing Academic Journals“ ist ein Ziel, mit dem neuen Marktmodell diese umfassenden Plattformen durch ein Netzwerk substituierbarer Service Provider zu ersetzen und mit deren Wettbewerb Innovationen anzuregen.

Verbundene Repositorien, offene Standards

Wie soll das funktionieren? Bei einem der zentralen Hebel gibt es momentan große Bewegung: der Forschungsbewertung. Mit der „Coalition for Advancing Research Assessment“ (CoARA), die die EU unterstützt und an der sich die DFG beteiligt, wird der Zeitschriftenartikel als überdominante Quelle wissenschaftlichen Renommees absehbar entthront. An seine Stelle rückt ein föderiertes Netzwerk an Repositorien, das anerkannte Forschungsleistung auf Daten und Code erweitert und zusätzlich Updates, Versions- sowie Qualitätskontrolle ermöglicht. CoARA und institutionelle Repositorien gab es bereits vor dem Ratsbeschluss, sodass dieser nur folgerichtig die bereits seit langem bestehenden Entwicklungen aufgreift und als generelle Ziele ausformuliert – ein schönes Beispiel evidenzbasierter, konsequenter und konstruktiver Politik.

Ein weiterer wichtiger Baustein ist die feste Verankerung offener Standards. Diese ermöglichen Forscher:innen den Wechsel zwischen Anbietern, statt sie in goldenen Käfigen proprietärer Ökosysteme gefangenzuhalten. Offene Standards sind auch zentral, um Text, Daten, Quellcode und vieles mehr zu dem „Web of scientific insight“ zu verflechten, das der Präsident der European Open Science Cloud, Karel Luyben, kürzlich als Idealbild entwarf. Dieses Geflecht kann eine viel bessere – und überprüfbarere – Orientierungsfunktion über das wissenschaftliche Wissen darstellen als der aktuelle Pointillismus von Millionen Zeitschriftenartikeln, die in der erdrückenden Mehrheit außer Autor:innen und Gutachter:innen kaum jemand liest.

Ein Schlussstrich?

In der Vergangenheit endeten alle Versuche von Wissenschaftler:innen selbst, dem Elend unter den Kuckuckskonzernen ein Ende zu bereiten, entweder durch den Aufkauf der neuen Alternativen oder durch einen freundlichen Kannibalismus von „embrace – extend – extinguish“. Die Neuformung wissenschaftlicher Infrastrukturen muss deshalb durch eine robuste Governance gesichert werden. Als Vorbild kann hier das World-Wide-Web Consortium (W3C) dienen, das die offenen Internetstandards überwacht. Ansätze hierzu sind in den Open-Science-Empfehlungen der UNESCO ebenso zu finden wie im Aufbau von CoARA als stakeholder-driven Governance, die nach den unguten Erfahrungen gerade beim W3C kommerzielle Akteure explizit aussperrt und eine Übernahme dadurch verhindert.

Die Entwicklung bei den wissenschaftlichen Infrastrukturen geht schon länger einen neuen Weg. Deutschland baut etwa die Nationale Forschungsdateninfrastruktur aus und entwickelt standardgeleitete Basisdienste. Bund und Länder empfehlen ihren Hochschulen und Einrichtungen einhellig, die zu CoARA äquivalente „San Francisco Declaration on Research Assessment“ zu unterzeichnen und danach zu handeln. Übersetzt heißt das: Werft die Zeitschriften und metrikbasierten Kennzahlen in die Altpapiertonne und beurteilt Forschung endlich wieder nach ihrer Qualität. Auf nationaler und auf EU-Ebene werden die Empfehlungen aus „Replacing Academic Journals“ also bereits sehr konkret und nahezu eins zu eins umgesetzt. Auch die Sprache verändert sich: „The hazards of Scholarly Publishing“ – das hätte man bis vor kurzem nicht in einem offiziellen Dokument gelesen.

Entscheidend ist: Der Ratsbeschluss zieht als gemeinsame Verpflichtung aller Mitgliedsstaaten de facto einen Schlussstrich unter den aussichtslosen Versuch, durch Transformationsverträge, wie in Deutschland DEAL, die Fehlentwicklung der Ex-Verlage zu bändigen. An deren Stelle setzt der Rat die Verpflichtung zum sogenannten „Diamond Open Access“-Modell, also das Investieren in eigene, wissenschaftsgeleitete Infrastrukturen. Das schließt wie in anderen Bereichen eine Zusammenarbeit mit Firmen nicht aus, aber immer unter Einhaltung klarer Zielvorstellungen – und wenn manche der Kuckuckskonzerne gerne dunkle Datengeschäfte mit Nachrichtendiensten machen und die persönlichsten Dinge von Forschenden sonst wohin verbreiten, dann können sie eben nicht mehr Partner der Wissenschaft sein. Sie haben damit die gemeinsame Grundlage gekündigt. Auf diese Klarstellung hat die Wissenschaft lange gewartet und jetzt geht es an die Arbeit.

Björn Brembs ist Professor für Neurogenetik an der Universität Regensburg.

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