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Sustainable Finance

Standpunkte Die Schwachstellen des Hochwasserschutzes

Timo Heinisch, Professor für Bauingenieurwesen, IU Internationale Hochschule
Timo Heinisch, Professor für Bauingenieurwesen, IU Internationale Hochschule Foto: IU Internationale Hochschule

Der Hochwasserschutz in Deutschland reicht noch nicht – ob bei Städten, Gemeinden, Gebäuden oder Fabriken. Gleichzeitig steigt mit dem Klimawandel das Hochwasserrisiko. Jetzt müssen wir endlich schneller vorankommen, fordert Timo Heinisch von der IU Internationale Hochschule in seinem Standpunkt. Die Herausforderung betrifft nicht nur Versicherer, sondern alle Investoren.

von Timo Heinisch

veröffentlicht am 21.10.2021

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Von ganz Deutschland gibt es Hochwassergefahrenkarten, die die Bundesländer online zur Verfügung stellen. Für Versicherer sind sie Entscheidungsgrundlage, ob sie bei einem Objekt Elementarschäden versichern oder nicht. Jede Gemeinde, jeder Bürger kann online nachsehen, wie groß das Hochwasserrisiko in der direkten Umgebung ist. Dabei erfolgt die Risikobewertung rückblickend und orientiert sich am größten Hochwasserereignis der vergangenen 100 Jahre.

Doch wir wissen alle, dass mit dem Klimawandel mehr und mehr Extremwetterereignisse auf uns zu kommen, so dass die Werte der Hochwassergefahrenkarten jetzt schon vorsorglich angepasst werden sollten. Manche Länder haben das bereits im Blick, doch der Trend muss sich noch durchsetzen. Außerdem werden mit dem One-Size-Fits-All-Ansatz zur Risikobewertung auch die Details in den jeweiligen Regionen zu wenig berücksichtigt. Im erst kürzlich so stark vom Hochwasser betroffenen Ahrtal zeigt die Analyse, dass selbst mit einem nach den aktuellen Hochwassergefahrenkarten recht umfänglichen Hochwasserschutz wenig erreicht worden wäre: Das Ereignis im Ahrtal war einfach sehr, sehr ungewöhnlich.

Laut Statistik sollte der Wasserabfluss bei Starkregen im Ahrtal maximal etwa 240 Kubikmeter pro Sekunde betragen – das entspricht etwa 1600 Badewannen, die in einer Sekunde auf einer Linie durch ein Flüsschen von wenigen Metern Breite drücken.

Doch der tatsächliche Wasserabfluss während des Ahrhochwassers betrug dann rund doppelt bis dreifach so viel:  400 bis 700 Kubikmeter Wasser flossen in der Sekunde die Ahr herab. Wir werden damit leben müssen, dass wir diese ganz seltenen Ereignisse nicht komplett abdecken können – aber in Deutschland sind wir selbst auf die 100-jährlichen Hochwasser nicht komplett vorbereitet, also auf Extremwetterereignisse, die statistisch gesehen etwa alle 100 Jahre auftreten.

Die Hochwassergefahrenkarten werden von den Behörden laufend nachgeführt. Wir kennen die Schwachstellen. Doch wir sollten bei der Risikobewertung nicht nur zurückschauen, sondern auch den Klimawandel einplanen. Die für den Schutz vor einem 100-jährlichen Hochwasser notwendigen Maßnahmen dürfen damit etwas umfangreicher ausfallen, was aus meiner Sicht dringend geraten ist.

Dreifacher Schutz für die Gefahrengebiete

Für den Schutz von Städten und Gemeinden vor Hochwasser kommt ein dreifacher Schutz in Frage, den die Planer umfänglich berücksichtigen sollten: Erstens sollte natürlicher Rückhalt für das Wasser genutzt werden, zweitens technische Schutzvorrichtungen gebaut und drittens Hochwasservorsorge betrieben werden. In Gemeinden ist meist mehr Raum für die Maßnahmen verfügbar als in Städten, wo Lösungen schwieriger sind und cleverer gedacht werden muss.

Konkret bedeuten die drei Maßnahmen: Wenn der Fluss oder Bach die großen Wassermengen nicht mehr fassen kann, werden erstens Rückhalteflächen genutzt, die gefahrlos überschwemmt werden können. Zu den natürlichen Rückhalteflächen gehören etwa Auenwälder, Muldenflächen, Moore oder landwirtschaftliche Felder, die bereits in den akkuraten Überflutungskarten der Behörden erfasst sind. Die Karten werden bundesweit regelmäßig aktualisiert. Können solche natürlichen Flächen nicht aktiviert werden, kann der Rückhalt von Wasser auch technisch geschaffen werden – etwa durch künstliche Becken, die oft durch Dammbau entstehen. Die technischen Schutzvorrichtungen umfassen beispielsweise auch Ufermauern. Im Grunde geht es immer um die Umsetzung von Ideen, wie man größere Wassermengen umleiten, schneller durchleiten oder rückhalten kann, um den Pegel zu steuern.

Drittens können durch eine geeignete Hochwasservorsorge und eine richtige Alarmierung Schäden vermieden und Leben gerettet werden. Jeder Bauingenieur, der an der IU Internationale Hochschule studiert, hat von den Maßnahmen gehört. Es gilt nun, das Wissen rund um den Wasserbau auch einzusetzen.

Vorbild Schweiz: Gewässer bekommen Raum

Ausreichend Platz für den Schutz vor 100-jährlichen Hochwassern ist in den wenigsten Siedlungsräumen vorhanden. Die Schweiz hat nun einen Gewässerraum festgelegt: Das ist der Platz, den ein Gewässer haben sollte, um auch bei Hochwasser keine Gebäude zu gefährden und ökologisch wertvolle Gewässerfunktionen zu ermöglichen. Es kann sein, dass in diesem Raum bereits Gebäude stehen, die einen Objektschutz benötigen. Aber im definierten Gewässerraum dürfen keine neuen Gebäude errichtet werden – auch nicht dort, wo ein Haus abgerissen wurde. Zusätzlich fördert die Schweiz Revitalisierungsprojekte mit mehr Budget als die technischen Maßnahmen: „Fläche statt Beton“ heißt das Motto.

Natürlich geht es beim Hochwasserschutz auch um Kosten und das Verhältnis zum möglichen Schaden. Dieser kann enorm sein: Mitte September 2021 hat die Finanzaufsicht BaFin ermittelt, dass die Versicherer und Rückversicherer mit einem maximalen Schaden von rund 8,2 Milliarden Euro aus dem Juli-Hochwasser rechnen.

Das Spannungsfeld Kosten und Nutzen bearbeiten die Bundesländer unterschiedlich: Ist beispielsweise in Baden-Württemberg der erwartbare Schaden kleiner als die Projektkosten einen Hochwasserschutzes, kann der Schutzgrad so reduziert werden, bis die Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen gegeben ist. In Bayern sollen alle Siedlungen beispielsweise den gleichen Schutz bekommen.

Entscheidungen schneller treffen

Bei jeder Maßnahme für den Hochwasserschutz sind private Eigentümer betroffen, eventuell Unternehmen und viele Amtsstellen sitzen im Boot. Die diversen Parteien ziehen wegen ihrer unterschiedlichen Interessen die Entscheidungsprozesse bei einem passenden Hochwasserschutz in den Regionen in die Länge. Moderne Entscheidungsverfahren sollten eingesetzt werden, um die Umsetzung von Projekten zu beschleunigen.

Unter dem Strich sind wir in Deutschland beim Hochwasserschutz gut unterwegs. Doch gilt es jetzt, die notwendigen Maßnahmen schneller auf den Weg zu bringen – denn das nächste Hochwasser wartet nicht darauf, bis wir mit allen Schutzmaßnahmen soweit sind. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.

Dr.-Ing. Timo Heinisch ist Professor für Bauingenieurwesen an der IU Internationale Hochschule in Bad Honnef.

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