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Sustainable Finance

Standpunkte NGO und Konzern blicken auf Wege zu Netto-Null

Carolin Boßmeyer, Heidelberg Materials und Viviane Raddatz, WWF
Carolin Boßmeyer, Heidelberg Materials und Viviane Raddatz, WWF Foto: Heidelberg Materials (Boßmeyer), WWF / Daniel Seiffert (Viviane Raddatz)

Die Industrie klimafreundlich zu machen, ist kein Spaziergang und geht nicht im Alleingang. Der Umweltverband WWF und der Zementhersteller Heidelberg Materials diskutieren daher in ihrem Standpunkt gemeinsam Lösungswege. Viviane Raddatz und Carolin Boßmeyer loten die Schnittmengen, aber auch die Unterschiede aus.

von Carolin Boßmeyer und Viviane Raddatz

veröffentlicht am 03.08.2023

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Die Industrie in Deutschland steht vor einer enormen Chance: Sie kann sich klimafit machen und der Welt zeigen, dass die Produktion von Stahl, Zement und Co. eine nachhaltige Zukunft hat. Und so zum globalen Vorbild werden. Dafür braucht es aber eine umfassende Transformation – und zwar jetzt. Da kann es helfen, ungewöhnliche Konstellationen zu wagen, etwa gemeinsame Botschaften von Umweltorganisationen und Industrieunternehmen. Denn einige Hebel lassen sich nur gemeinsam umlegen. Dass es dabei knarzt, wollen wir nicht verschweigen: Mit der rosaroten Brille lässt sich die Transformation nämlich nicht bewerkstelligen, sondern mit Pragmatismus, Mut und Zielorientierung.

Noch ist die Industrie der Sektor mit den höchsten Emissionen nach der Energiewirtschaft. Insgesamt gingen CO2-Emissionen bislang vor allem aufgrund von Krisen zurück, nicht aufgrund struktureller Änderungen, und diese Rückgänge waren temporär. Allein die 30 CO2-intensivsten deutschen Anlagen verursachten im vergangenen Jahr 58 Millionen Tonnen CO2-Emissionen. Dies entspricht acht Prozent der Gesamtemissionen Deutschlands. Das zeigt gleichzeitig: Investieren in diese Anlagen kann richtig was bewirken.

Auch Standorte von Heidelberg Materials finden sich in der WWF-Liste der „Dirty Thirty“ wieder. Ähnlich wie die Eisen- und Stahlproduktion ist die Zementherstellung bisher wenig klimafreundlich. Aber das Unternehmen will runter von der Liste – gerade wurde das erste Full-Scale-CCS-Projekt in Deutschland bekanntgegeben, mit dem die Zementproduktion im Werk Geseke dekarbonisiert wird. Das globale Unternehmenszielziel ist es, bis 2030 den CO2-Fußabdruck der Zementprodukte gegenüber 1990 um 47 Prozent auf einen Zielwert von 400 Kilogramm CO2 pro Tonne zementartigem Material zu senken. Bis 2050 soll die Treibhausgasneutralität erreicht sein. Den meisten Unternehmen ist mittlerweile sehr bewusst: Eine Industrie, die weiter im großen Maßstab die Klimakrise anheizt, wird auf Dauer nicht bestehen.

CCS für unvermeidbare Emissionen

Was braucht es also, damit die Industrie die Transformation schafft? Wir brauchen einen politischen Wegweiser in Form einer Industriestrategie. Nur so entsteht die nötige Planungs- und Investitionssicherheit. Teil davon ist eine Carbon-Management-Strategie, die klarmacht: Emissionsreduktionen stehen an erster Stelle. In der Zementherstellung und für Heidelberg Materials bedeutet das zum Beispiel, den CO2-intensiven Klinkeranteil zu reduzieren, alternative Brennstoffe und vor allem erneuerbare Energien einzusetzen und beim Bauen konsequent auf Kreislaufwirtschaft und Materialeffizienz zu setzen.

Doch auch wenn die Vermeidung von Emissionen stets Priorität hat, braucht es in der Industrie für die nicht-vermeidbaren Emissionen gleichzeitig auch CO2-Abscheidung zur Speicherung oder Nutzung (CCS und CCU) und die dazugehörige Infrastruktur. Hier kommt es auf die Definition an: Für den WWF gehören energiebedingte Emissionen, wie sie auch im oben erwähnten Werk Geseke mit abgeschieden werden sollen, nicht dazu, denn sie lassen sich aus WWF-Sicht vermeiden, indem etwa grüne Energieträger eingesetzt werden. CCS ist für den WWF nur sinnvoll bei Prozessemissionen, zu denen es bisher keine nachhaltigen Alternativen gibt. Heidelberg Materials hält das für zu pauschal: Die energetischen Alternativen gibt es für die Zementproduktion auf längere Sicht technisch bedingt noch nicht. Es ist erforderlich und sinnvoll, die Emissionen aus abfallbasierten alternativen Brennstoffen, mit denen herkömmliche fossile Energieträger ersetzt werden, mit abzuscheiden.

Staatliche Unterstützung für ambitionierten Wandel

Daneben braucht es für die Transformation Signale vom Markt: Das wichtigste Preissignal für die Industrie setzt künftig der europäische Emissionshandel. Künftig kursiv, da über die kostenlose Zuteilung aus dem ETS bisher zu wenig Anreiz für durchgreifende Emissionsminderung kam. Das wird sich ändern – aus Sicht des WWF nicht schnell genug. Umso wichtiger wird der Blick auf die Förderpolitik: Die Industrie braucht Unterstützung bei der Transformation, bis die Klimaschutztechnologien wirtschaftlich werden. Dafür, für saubere Zukunftstechnologien und im Wettbewerb mit anderen Regionen der Welt, müssen Gelder fließen, von staatlicher Seite und vor allem aus den Finanzmärkten. Umweltschädliche Prozesse dürfen nicht subventioniert werden.

Dabei sind sich der WWF und Heidelberg Materials einig: Fördern und Fordern, Geld nur gegen ambitionierten Wandel. Belastbare Transformationspläne, wissenschaftsbasierte Ziele, Energie- und Umweltmanagementsysteme und Anstrengungen für mehr Energieeffizienz kommen hier zum Tragen. Hier geht noch sehr viel mehr, das ist die klare Forderung des WWF. Heidelberg Materials sieht das im Grundsatz ähnlich, appelliert aber an Augenmaß und bemängelt ein hohes Maß an bestehenden Auflagen in den verschiedenen Gesetzgebungen. Die Projekte selbst zwingen schon rein aus wirtschaftlichem Eigeninteresse in die Energieeffizienz.

Die Zukunft ist ein Kreis

Klar ist: Ohne Kreislaufwirtschaft sind alle Transformationsbemühungen zwecklos. Ressourcenschonung und Klimaschutz müssen zusammengedacht werden. Das ist erkannt, aber noch wenig gelebt, gerade auch am Bau mit seinen riesigen Materialströmen. Es braucht einen Wertewandel innerhalb der Unternehmen gepaart mit politischer Strategie, Maßnahmen und Technologien, die den Ressourcenverbrauch reduzieren und die Materialeffizienz verbessern. Betonabbruch etwa ist wertvoll. Heidelberg Materials will ebenso wie der WWF im Sinne von Ressourcenschonung und Klimaschutz hochwertiges Beton- und Zementrecycling vorantreiben.  

In Deutschland wird das meiste Abbruchmaterial zwar wiederverwendet, Beton aber längst nicht so hochwertig, wie es angesichts der aufwendigen, energieintensiven Herstellung des Baustoffs angemessen wäre. Heidelberg Materials will durch rezyklierte Gesteinskörnungen immer mehr Primärrohstoffe ersetzen. Aber auch auf die Zusammensetzung des Zements kommt es an: Je niedriger der Klinkeranteil, indem alternative Rohstoffe eingesetzt werden, desto weniger Prozessemissionen entstehen.

Ein Weg, für alle Sektoren die Kreislaufwirtschaft anzukurbeln, kann eine Finanz- und Steuerpolitik sein, die Investitionen in zirkuläre Geschäftsmodelle sehr viel deutlicher fördert als ressourcenintensive. Für den WWF sind auch verbindliche Ressourcenziele wichtig. Hier braucht es im Sinne bester und branchenspezifischer Lösungen einen Trilog von Wirtschaft, Politik und Umweltverbänden.

Rückenwind durch grüne Leitmärkte

Apropos Ankurbeln: Bei alldem sollte die öffentliche Hand als großer Kunde als Vorbild dienen. Sie kann, und der Bund arbeitet gerade daran, grüne Leitmärkte schaffen, etwa mit der Einführung von Klimaschutzkriterien bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge. Grün muss auf dem Markt das neue Normal werden.

Last but not least: die erneuerbaren Energien. Ein gemeinsamer Standpunkt, der auch Forderungen an die Politik enthält, kann nicht enden, ohne an die dringende Beschleunigung des Ausbaus von Wind- und Solarstrom und der Netzinfrastruktur zu appellieren. Nur so können sich andere Sektoren wie Verkehr und Gebäude direkt elektrifizieren, nur so steht der Industrie ausreichend grüner Strom und Wasserstoff zur Verfügung. Der Bedarf an Strom für die Industrie ist groß: Die Prognosen schwanken stark, teilweise wird von einer Vervielfachung ausgegangen. Genau deshalb braucht es strukturelle Maßnahmen und Umstellung der Energiebasis. Jetzt ist es an der Zeit, beides anzugehen. Die Transformation ist zu schaffen, wenn Wille und die Bereitschaft zum Dialog da sind. So entfachen wir die Dynamik, auf die es jetzt ankommt.

Viviane Raddatz ist Fachbereichsleiterin Klimaschutz und Energiepolitik bei der Umweltorganisation WWF Deutschland. Carolin Boßmeyer leitet das Verbindungsbüro Berlin von Heidelberg Materials, dem größten deutschen Zementhersteller und einem der größten Baumaterialkonzerne der Welt.

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