„Verwaltungsdigitalisierung ist kein Selbstzweck“ und „Es fehlt der politische Wille“ sind zwei der abgenutztesten Felder des E-Government-Phrasen-Bingos. Warum das politische Kosten-Nutzen-Kalkül für die Verwaltungsdigitalisierung schlecht ausfällt und was neue Zwecke daran ändern könnten, erkunde ich im Folgenden.
Letzte Woche habe ich auf der Kommunale („Fachmesse für Kommunalbedarf”) ein Panel zu Plattform-Ansätzen in der Verwaltungsmodernisierung moderiert. Die vertretenen Akteure einigten sich schnell auf grundsätzliche Begeisterung für den Ansatz. Sobald wir mit einem Vorschlag aus einer aktuellen NEGZ-Kurzstudie konkret wurden, verkeilten sich die Interessen. Eine Konsenslösung lag außer Sicht. Prompt folgte der Ruf nach Durchregieren durch die politische Ebene. Doch dafür fehle erfahrungsgemäß der Wille. (Bingo!)
In der deutschen Verwaltungsdigitalisierung ist das ein bekanntes Muster: Fachlich wäre beispielsweise eine einheitliche Lösung sinnvoll, doch einzelne Akteursinteressen stehen quer. Die Arbeitsebene hat ihren Verhandlungsspielraum erschöpft. Nun wäre es an gewählten Amtsträger:innen, politisches Kapital in die Waagschale zu werfen. Also vielleicht parteipolitische Zügel zu ziehen, politikfeldübergreifende Kuhhandel anzubieten, zur Regierungszentrale zu eskalieren oder ausstehende Gefallen einzufordern. Dazu kommt es nicht. Stattdessen folgt ein Minimalkonsens.
In solchen Gesprächen folgt oft sehnsüchtig der Verweis etwa auf Gerhard Schröder, der für die Agenda 2010 seine Kanzlerschaft riskierte und auch verlor, aber so im Rückblick die deutsche Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs brachte. Das Beispiel mag in vielerlei Hinsicht zweifelhaft sein, doch es bleibt die Frage: Warum ist niemand bereit, für die Verwaltungsdigitalisierung den politischen Heldentod zu wagen?
Unattraktives politisches Kosten-Nutzen-Kalkül
Aufschluss gibt ein Blick auf die politische Kosten-Nutzen-Abwägung. Der politische Aufwand für erfolgreiche Verwaltungsdigitalisierung ist durch die Akteursverflechtung bei der Umsetzung vergleichsweise hoch. Bach, Jantz und Veit (2010) sprechen Bürgermeister:innen auf der Kommunalebene noch die größte Gestaltungsfähigkeit in der Verwaltungspolitik zu. Doch auch hier hängt viel von Vorgaben aus Land und Bund sowie von der Mitwirkung öffentlicher und privater IT-Dienstleister ab. Als Bundespolitiker:in kann man eigentlich nur indirekt wirken (siehe Wegrich 2006) und ist für greifbare Ergebnisse in der Verwaltungsdigitalisierung auf die Kooperation einer Vielzahl von Akteuren mit ihren jeweils eigenen Interessenlagen angewiesen.
Hinzu kommen Kosten durch die Wechselwirkungen zwischen Politikfeldern: Lohnt es sich etwa für das Bundesinnenministerium, im Feld der Verwaltungsdigitalisierung mit den Bundesländern auf Konfrontationskurs zu gehen, wenn die Ministerin gerade dringend föderalen Kooperationswillen in Migrationsangelegenheiten braucht? Ist es das Fernziel der IT-Konsolidierung wirklich wert, den Kabinettskolleg:innen in ihre ressortinternen IT-Strukturen hineinzureden und so den prekären Koalitionsfrieden aufs Spiel zu setzen? Die Kosten sind also hoch, wenn man das Thema nicht nur irgendwie verwalten, sondern sichtbare Erfolge erwirken will.
Auf der Nutzenseite winken im Politischen etwa mediale Aufmerksamkeit, innerparteiliche Profilierung und Anerkennung durch die Wähler:innen. Nun ist Verwaltungspolitik kein öffentlichkeitswirksames Thema, sondern eher ein Expert:innendiskurs, wie Bogumil (2017) anschaulich darlegt. Die mediale Würdigung aufwändiger Umsetzungserfolge mag am Ende nicht größer sein als die Resonanz auf reine Ankündigung „großer Würfe” der Verwaltungsreform (Ebinger & Bogumil 2016). Die Umsetzung von Herzensthemen der eigenen Partei (beziehungsweise einzelner Parteiströmungen) kann bei der innerparteilichen Vergabe von Posten durchaus goutiert werden.
Negative Kosten-Nutzen-Bilanz des Politikfelds Verwaltungsdigitalisierung
Allerdings zählt die Verwaltungsdigitalisierung eher nicht zu diesen Herzensthemen: Obwohl E-Government inzwischen eines der wichtigsten digitalpolitischen Themen in den Wahlprogrammen ist, bleiben die Parteien mit ihren Forderungen erkennbar an der Oberfläche, wie König & Siewert für die Bundestagswahl 2021 analysieren.
Setzen Entscheidungsträger:innen ein wichtiges Thema um – oder sich zumindest authentisch dafür ein – können sie einen bleibenden positiven Eindruck bei den Bürger:innen hinterlassen. Bei der Verwaltungsdigitalisierung halte ich erstens für fraglich, inwiefern dies für Bürger:innen wirklich ein wichtiges Thema ist – mehr dazu später. Zweitens ist durch die verflochtene Umsetzung die saubere Zuordnung von Politikerfolgen schwierig. Wird etwa eine OZG-Leistung vorbildlich umgesetzt, drängt sich gefühlt die halbe deutsche Verwaltung auf dem Pressefoto.
Unterm Strich erklärt sich der „fehlende politische Wille“ also aus einer eher unattraktiven politischen Kosten-Nutzen-Bilanz des Politikfelds „Verwaltungsdigitalisierung“. Ein Indiz hierfür ist auch, dass sich das politische Personal nicht um CIO-Sessel reißt. So blieb die Besetzung des Bundes-CIO nach dem Regierungswechsel unverändert. Der Berliner Landes-CDO wurde zwar getauscht. Doch dass mit CSU-Mitglied Martina Klement aus der bayerischen Schwesterpartei rekrutiert wurde, lässt vermuten, dass in der Berliner CDU niemand den Finger für diese Aufgabe gehoben hatte. Beides sind Posten im Staatssekretärs-Rang und somit üblicherweise hochattraktiv, gerade für ambitionierte Fachpolitiker:innen. Doch der kurze Pfad zur Kanzlerschaft lässt sich aus diesem Politikfeld wohl nur schwer erkennen.
Neue Zwecke im Angebot: Handlungsfähigkeit und Sozialpolitik
Ich glaube, dass wir die Kosten-Nutzen-Abwägung verschieben könnten, wenn wir die Verwaltungsdigitalisierung mit anderen Zwecken motivieren. Klassisch steht E-Government im Konnex mit Bürokratieabbau. Auch wenn das Klagen über zu viel Bürokratie Volkssport ist, halte ich die positive Wirkung erfolgreichen digitalen Bürokratieabbaus an der Wahlurne für begrenzt. Wirklich spürbar entlastet würden vor allem Unternehmen mit ihren vielen Berichts-, Mitwirkungs- und Genehmigungspflichten. In der wirtschaftspolitischen Argumentation entfaltet Bürokratieabbau eine Breitenwirkung, weil entfesselte Unternehmen Arbeitsplätze, Spitzenlöhne und -dividenden schaffen.
Für diese indirekte Wirkung sind Bürokratiekosten jedoch nur ein Faktor unter vielen. Die direkt davon betroffene Gruppe, etwa Selbstständige und Geschäftsleitungen, ist als Anteil am Wahlvolk gering. Für Abermillionen Arbeitnehmer:innen im Land aber wird der alle zehn Jahre fällige Personalausweisverlängerungs-Gang zum Bürgeramt kaum wahlentscheidend sein. Aufwändigere Verwaltungsakte wie Elterngeldantrag oder Bauantrag fallen für die meisten Menschen in diesem Land nur wenige Male im Leben an.
Stattdessen habe ich zwei habe neue Zwecke für Verwaltungsdigitalisierung im Angebot und freue mich über Vorschläge für weitere.
Die Handlungsfähigkeit des Staates ist in der vielbeschworenen „Polykrise“ eine naheliegende Motivation für Verwaltungsreformen insgesamt und Verwaltungsdigitalisierung im Besonderen. Dass die Notwendigkeiten der Corona-Pandemie vielen Digitalisierungsbemühungen zum Durchbruch verholfen haben, die zuvor jahrelang im Koordinationsnirvana dümpelten, muss ich nicht weiter ausführen. Dass die Bundesregierung bei Bedarf zwar blitzschnell Dinge wie die Energiepreispauschale beschließt, ist für das Wahlvolk sicher befriedigend. Wenn ihre Umsetzung angesichts fehlender informationstechnischer Voraussetzungen in der Verwaltung aber viele Monate braucht, ist dieser positive Effekt schnell verflogen. Dieses Narrativ der Handlungsfähigkeit liest und hört man aktuell vermehrt.
Kindergrundsicherung als Teil der E-Government-Reform
Verwaltungsdigitalisierung, insbesondere proaktive Verwaltungsleistungen, könnte aber auch viel stärker sozialpolitisch motiviert werden. Nur rund die Hälfte aller Berechtigten hat in den letzten Jahren die ihnen zustehenden Hartz-IV-Leistungen in Anspruch genommen, wie das DIW ermittelt hat. Bei Wohngeld und Kinderzuschlag berichtet das IAB, dass 50 bis 90 Prozent der Anspruchsberechtigten diese Leistungen nicht beantragen. Gründe sind etwa Scham, Unwissen und hoher Aufwand der Antragsstellung. Das DIW hat in Laborexperimenten die signifikante Wirkung proaktiver Verwaltungleistungen gezeigt, die automatisch aufgrund vorliegender Informationen zum Leistungsanspruch ausgeschüttet werden. Eine weitere DIW-Studie projiziert daraus folgende merkliche Steigerungen gerade beim Einkommen der ärmeren Haushalte in Deutschland.
Dass die vieldiskutierte Kindergrundsicherung mit automatischem „Kindergrundsicherungs-Check“ und „Kinderchancenportal” zu einem Gutteil eine E-Government-Reform in diesem Sinne wird, davon habe ich in der Verwaltungsdigitalisierungs-Szene keinen Ton gehört. Dabei könnten mit derartigen Narrativen andere politische Zielgruppen für die digitale Verwaltung begeistert werden als mit dem traditionell wirtschaftsorientierten Bürokratieabbau-Argument.
Wollen wir also mehr politischen Willen mobilisieren, sollten wir nicht nur behaupten, dass Verwaltungsdigitalisierung kein Selbstzweck ist. Es gilt überzeugend zu erzählen, wie die digitale Verwaltung das Leben der Bürger:innen jenseits von ein paar ersparten Amtsgängen besser macht. Ich freue mich auf viele Ideen!
Basanta Thapa forscht und kommuniziert als Geschäftsführer des Nationalen E-Government Kompetenzzentrums e.V. in Berlin, einem Fachnetzwerk und Denkfabrik zur Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Sein Forschungsschwerpunkt ist die datengesteuerte Verwaltung. Er hat unter anderem am Kompetenzzentrum Öffentliche IT des Fraunhofer Fokus, an der Hertie School of Governance, am European Research Center for Information Systems und an der Technischen Universität Tallinn geforscht.
Bisher von ihm in dieser Rubrik erschienen: „Blind durch die Verwaltungsdigitalisierung“, „Informationspolitik ölt die Umsetzungsmaschine“ und „Vision gesucht: E-Government im Bundesstaat“.