Erweiterte Suche

Sustainable Finance

Standpunkte Warum Ökosystem-Accounting wichtig, aber kompliziert ist

Karsten Grunewald, Projektleiter am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung
Karsten Grunewald, Projektleiter am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung Foto: R. Vigh/IÖR-Media

Ökosysteme zu erfassen und zu bilanzieren, kann der Biodiversität eine höhere Wertschätzung verleihen. Sowohl auf nationaler als auch auf Unternehmensebene werden daher Berichtssysteme aufgebaut, die das Naturvermögen stärker in den Fokus nehmen. Aber es sei noch ein schwieriger Weg, um von diesem neuen Narrativ tatsächlich und messbar zu einem Natur-freundlicheren Handeln zu kommen, schreibt Karsten Grunewald in seinem Standpunkt-Gastbeitrag.

von Karsten Grunewald

veröffentlicht am 06.06.2024

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen

Ökosystemleistungen sind für die Gesellschaft und die Wirtschaft wertvoll. Sie werden jedoch durch traditionelle statistische Berichtssysteme, insbesondere die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, nur teilweise und indirekt erfasst. Deshalb arbeiten eine ganze Reihe an Einrichtungen daran, mit Hilfe des Ökosystem Accountings die vielfältigen Leistungen der Natur für die Gesellschaft sichtbar zu machen.

Verbindliche Rahmenbedingungen

Um dabei für eine internationale einheitliche Sprache zu sorgen, haben die Vereinten Nationen 2021 das SEEA-EA-Rahmenwerk (System of Environmental-Economic Accounting-Ecosystem Accounting) verabschiedet. Es definiert die Struktur und die Methoden des neuen Ökosystem-Accountings. Die konkrete Implementierung für den europäischen Kontext definiert wiederum eine EU-Verordnung. In Deutschland ermöglichen die vorhandenen gesetzlichen Grundlagen des Bundesstatistikgesetzes die Umsetzung des SEEA-EA-Konzepts.

Für dieoffiziellen nationalen Ökosystem-Accounts ist das Statistische Bundesamt (StBA) verantwortlich. Die Ökosystemrechnungen sind in Konten aufgebaut, die Ausmaß (Extent), Zustand (Condition) und Leistungen in Bilanzform darstellen. Gespeist werden die Konten durch eine Vielzahl von Datensätzen. Eine Grundbedingung dabei ist die räumliche Struktur der Daten sowie deren zeitliche Konsistenz.

Der Inhalt der Konten wird als Zeitreihe (dreijährlich für Ausmaß und Zustand, jährlich für Leistungen) auf vergleichbare Regionen wie Bund, Länder und Gemeinden mit Anfangs- und Endbestand sowie Veränderung berichtet. Ausmaß und Zustand bilden als Bestandsgrößen die Grundlage, um die Flussgrößen – die Ökosystemleistungen – abzuleiten. Dies erlaubt es, Angebot und Nachfrage an Ökosystemleistungen über die Zeit zu interpretieren, indem Informationen zum Ausmaß (zum Beispiel zu renaturierten Flächen) und Zustand (etwa Dürre) zu Rate gezogen werden. Die Flächen- und Zustandsbilanzen sind inzwischen verfügbar, während die physischen Ökosystemleistungen und thematische Accounts in Vorbereitung sind.

Ökosystem-Accounting als Gemeinschaftsaufgabe

Neben den Arbeiten des StBA gibt es weitere Institutionen, die an Fragestellungen des Biodiversitäts- und Ökosystemleistungs-Accounting im weiteren Sinne und den zugrunde liegenden Daten arbeiten. Forschungseinrichtungen, wie beispielsweise das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR), das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) oder das Johann Heinrich von Thünen-Institut (Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei), spielen eine wichtige Rolle.

Beispielsweise wurde vom IÖR und dem Bundesamt für Naturschutz (BfN) der Indikator „Biotopwert der Ökosysteme Deutschlands“ entwickelt. Dieser zeigt, wie die Ökosysteme in ihrer Art, Ausdehnung und Qualität zur Erhaltung der biologischen Vielfalt beitragen. Berechnungen der Habitatwerte für 2012, 2015 und 2018 zeigen nur kleine Änderungen in der bundesweiten Summe. Die nach Eingriffen vorgenommenen Kompensationsmaßnahmen und darüber hinaus gehende Naturschutzmaßnahmen führen angesichts fortdauernder Belastungen wie Flächeninanspruchnahmen offenbar nicht zu einer Verbesserung der Gesamtsituation.

Ökosysteme haben einen Wert

Die Erhaltung von Ökosystemen und Arten hat für jeden Bürger einen Wert. Gesellschaftlich drückt sich das unter anderem in den Regelungen des Bundesnaturschutzgesetzes aus; international in der Konvention über die biologische Vielfalt. Ökonomisch bedeutet dies, dass Arten und Biotope den Charakter eines Gutes haben. Im neuen internationalen Standard für die Umweltökonomische Gesamtrechnung (SEEA-EA) wird dieses Gut als „Wahrnehmung von Ökosystemen und Arten“ (ecosystem and species appreciation) bezeichnet. Unter Zuhilfenahme von Kosten und Zeiträumen für die Wiederherstellung von Ökosystemen kann der Indikator auch in Geldwerte umgerechnet werden.

Grundlage für politische Entscheidungen

Die systematischen Informationen zu Ausmaß, Qualität und Leistungsfähigkeit unserer Ökosysteme haben das Potenzial, für zusätzliche Aufmerksamkeit in der geltenden Wirtschafts-, Agrar-, Finanz-, aber auch der Wald- bis hin zur Gesundheitspolitik zu sorgen. Insbesondere, wenn Accounts beziehungsweise Ökosystemleistungsindikatoren in nationale Strategien einbezogen werden, erlangen sie politische Relevanz und können ihr Informations- und Steuerungspotenzial auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene entfalten.

Es handelt sich im Ergebnis um ein neues Narrativ für den Umgang mit Natur. Führende Ökonomen sehen hierin sogar eine der Grundlagen für eine Transformation der Wirtschaft in Richtung einer neuen Wertschätzung der Biosphäre. Die bislang vorherrschende Externalisierung sowohl von Umweltschäden als auch Leistungen der Natur bei vielen Entscheidungsträgern weicht der Erkenntnis, dass man es mit einem Ökologisch-Ökonomischen-Gesamtsystem zu tun hat.

Auch die Naturschutzpolitik selbst erhält die Chance, sich konzeptionell zu erweitern: Die bislang oft zugeschriebene Rolle eines primär defensiven Erhalts von Arten und Landschaftsteilen („Naturerhalt durch Reservate“) würde um eine gestaltendere Politik ergänzt: Im Zuge eines regelmäßigen Ökosystem-Accountings würde die Naturschutzpolitik viele Entscheidungen auf politischer und unternehmerischer Ebene begleiten können, nicht nur durch die bessere Sichtbarkeit von Biodiversitäts- und Naturschutzzielen, sondern vor allem durch die sich ausbreitende Einsicht, in diese Quelle des gesellschaftlichen Wohlergehens letztlich genauso investieren zu müssen wie in neue Technologien, Bildung und sozialen Ausgleich. Dies betrifft die staatliche Seite, aber insbesondere Unternehmen – so die Forderung aus dem Forschungsverbund Bio-Mo-D.

Herausforderungen für Wissenschaft und Praxis

Auf Ökosysteminformationen basierende neue Berichtssysteme befinden sich in Deutschland wie in vielen anderen Ländern im Aufbau und stellen nicht nur Statistikerinnen und Statistiker, sondern alle Beteiligten aus Wissenschaft und Praxis vor Herausforderungen.

Die Verfügbarkeit und Kommunizierbarkeit konsistenter bundesweiter Daten in hoher Detailtiefe zu wesentlichen Aspekten über alle Ökosysteme ist ein Problem. Auch dürfen Geodaten nicht ohne weiteres an Dritte, also potenzielle Nutzer, weitergegeben werden; Unternehmen müssen unter Umständen sogar dafür bezahlen.

Die Kommission Zukunft Statistik stellte in ihrem Gutachten im Januar 2024 fest, dass es an hochwertigen statistischen Informationen fehlen würde, die für den politischen Diskurs wichtig sind. Auch sie spricht sich für „eine kontinuierliche statistische Berichterstattung zu Biodiversitätsthemen aus“.

Neue Datenprodukte schon verfügbar und validiert?

Auch wenn sich die Nachfrageseite nach Ökosystem-Accounting-Informationen erst entwickelt, gibt die Kommission Zukunft Statistik vorsorglich folgendes zu bedenken: „Im Ringen um politische Lösungen erhält die Dimension „Ökosysteme und Arten“ bislang nicht das gleiche Gewicht wie die soziale und ökonomische Dimension (mit ihren jeweiligen Indikatoren).“ Damit bestehe die Gefahr, dass die Politik die gesamtgesellschaftlichen Kosten, die durch Verlust der Ökosysteme und Biodiversität entstehen, nicht angemessen berücksichtige. Eine faktenbasierte Politik sei so nicht möglich. „Dies führt derzeit dazu, dass erste Angebote statistischer Informationen mit nicht validierter Qualität vermarktet werden.“ Die Kommission kritisiert daher auch die europäischen Nachhaltigkeitsberichtstandards (European Sustainability Reporting Standards, ESRS). Sie seien ein Beleg dafür, dass sich der negative Trend weiter verstärke

Accounting – ist kein „Preisschild“

Hinsichtlich der monetären Bewertung der Ökosystemleistungen gibt es noch keinen breiten Konsens. Die Kapitel des SEEA-EA, welche die monetäre Bewertung behandeln, sind bisher nur als Leitfaden, nicht aber als statistischer Standard anerkannt. Da jedoch die monetäre Bewertung von Gütern und Leistungen der Natur eine gemeinsame Metrik bietet und diese auch mit anderen Leistungen vergleichbar macht, die in die VGR eingehen, sind breit akzeptierte Lösungen notwendig. Nur dann werden Ergebnisse des Ökosystem-Accountings die erwartete Hebelwirkung für eine naturfreundlichere Wirtschaftsausrichtung entfalten können.

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen