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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Was, wenn es die Technologie nicht allein richtet?

Julius Jöhrens, Themenfeldleiter Antriebstechnologien am Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg
Julius Jöhrens, Themenfeldleiter Antriebstechnologien am Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg Foto: promo

Bestehende Klimaneutralitätsstudien haben einen starken technologischen Fokus, vor allem im Verkehrssektor. Wir brauchen dringend Abschätzungen, welche Risiken das für unsere Klimaziele birgt und was dies für die Verkehrswende bedeutet.

von Julius Jöhrens

veröffentlicht am 06.07.2023

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Szenarienstudien, also wissenschaftsbasierte Projektionen möglicher zukünftiger Entwicklungen, sind Ankerpunkte im politischen Diskurs – spätestens seit der viel kritisierten langfristigen Verkehrsprognose, die das Bundesverkehrsministerium jüngst vorlegte. Sie werden wahlweise verwendet, um mutmaßlich unvermeidliche Entwicklungen abzubilden (siehe Langfristprognose der Verkehrsentwicklung) oder um notwendige Transformationspfade zu skizzieren, wie es in klimapolitischen Zielszenarien der Fall ist. In beiden Fällen geht es darum, politisches Handeln (und bisweilen auch Nicht-Handeln) zu rechtfertigen.

Im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 erlebten die Zielszenarien in Gestalt der großen sektorenübergreifenden Klimaneutralitätsstudien eine Blütezeit. Sie lieferten wichtige politische Blaupausen und definieren nach wie vor den energie- und klimapolitischen Diskussionsraum – zum Beispiel bei der Frage, mit welchen erneuerbaren Energie(import)bedarfen wir zukünftig zu rechnen haben.

Technologisch optimistisch, gesellschaftlich konservativ

Den technologiepolitischen Diskurs berücksichtigen die Szenarienstudien meist, indem sie mehrere Szenarien mit verschiedenen Technologieportfolios betrachten und somit den technologischen Optionshorizont aufspannen. Einige grundlegende Prämissen, insbesondere bezogen auf den Verkehrssektor, werden jedoch in (fast) allen Studien nahezu kritiklos fortgeschrieben. Die Untersuchung von Annahmen der Klimaneutralitätsszenarien des Ariadne-Projekts, der dena-Leitstudie, der Klimapfade 2.0 des BDI sowie der Langfristszenarien des BMWK zeigte eine Reihe solcher Gemeinsamkeiten bei den Annahmen:

  • Danach erzeugt Wirtschaftswachstum immer Verkehrswachstum – und zwar in ähnlicher Größenordnung wie historisch beobachtet.

  • Der Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene und Änderungen der individuellen Mobilitätsmuster weg vom Pkw wird selbst langfristig fast keine Chance gegeben – die Studien übernehmen im Wesentlichen die politische Trägheit der vergangenen Jahrzehnte.

  • Die Pkw bleiben im Schnitt groß, schwer und reichweitenstark – mit den entsprechenden Konsequenzen für Energie- und Ressourcenverbrauch. Die E-Mobilität übernimmt im Wesentlichen die technischen Parameter von Benzinern und Dieseln.

  • Erforderliche internationale Ressourcen (Rohstoffe und grüne Energieträger, insbesondere grüner Wasserstoff und seine Derivate) für den dekarbonisierten Verkehrssektor sind – trotz erwartbarer globaler Nachfrage im großen Maßstab – entsprechend der deutschen Nachfrage und zu akzeptablen Kosten verfügbar.

Die Szenarien schreiben das historische Verkehrswachstum und bisherige Mobilitätsgewohnheiten also im Wesentlichen fort. In diesem Rahmen lassen sich Klimaziele dann nur noch technologisch erreichen – also durch den bloßen Wechsel der Antriebstechnologie und der Energieträger.

Dabei werden in großem Umfang Technologien einbezogen, die heute noch gar nicht im relevanten Maßstab am Markt verfügbar sind und für deren großskalige Umsetzung Erfahrungswerte fehlen, so etwa die Herstellung von Flüssigkraftstoffen aus erneuerbarem Strom sowie der Transport von Wasserstoff über weite Entfernungen. Das betrifft vornehmlich auf die Szenarien, die stark auf erneuerbare Moleküle anstatt die direkte Nutzung erneuerbaren Stroms setzen. Aber auch bei der Rohstoffverfügbarkeit für die Elektromobilität und den Lieferketten für alternative Antriebstechnologien bestehen Risiken.

Gesellschaftliche Umbrüche? Sind nicht eingeplant

Im Ergebnis berücksichtigen die betrachteten Klimaneutralitätsszenarien einerseits nicht die volle Bandbreite klimapolitischer Maßnahmen und sind zusätzlich in hohem Maße mit Unsicherheiten behaftet. Insbesondere sozioökonomische Risiken bei Einführung und Skalierung neuer Technologien sowie geopolitische Risiken, die sich aus den sich ergebenden Importbedarfen von Rohstoffen und erneuerbaren Energieträgern ergeben, sind unzureichend abgebildet. Die Studien zeichnen stattdessen für die Politik kontinuierliche Transformationspfade, Disruptionen gibt es allenfalls in Gestalt technischer Innovationen. Es ist zu bezweifeln, dass damit die Möglichkeiten und Risiken der kommenden Jahrzehnte angesichts hoher gesellschaftlicher und geopolitischer Spannungen adäquat beschrieben werden.

Durch die kaum existente Diskussion dieser Risiken liefern die Klimaneutralitätsstudien in erster Linie Argumente für eine technologiefixierte Klimaschutzpolitik, die Risiken ausblendet. Wenn die projizierten Entwicklungen dann nicht eintreten, kann die Politik ihre eigenen Ziele nur noch abschwächen – eine klimapolitisch fatale Entwicklung.

Mögliche „Zwischenfälle“ einkalkulieren

Wie könnten Szenarienstudien dieser Problematik zukünftig begegnen? Eine Möglichkeit wäre, zu jedem Zielpfad Worst-Case-Abschätzungen anzustellen, die mögliche Hindernisse und „Zwischenfälle“ auf dem Pfad explizit modellieren. Dies würde eine Diskussion über Risiken und einen Risikovergleich zwischen verschiedenen Transformationspfaden ermöglichen.

Parallel sollten auch alternative Entwicklungen bezüglich Verkehrswachstum und Modal Split in den technologiebasierten Szenarien betrachtet werden. So ließe sich zeigen, inwieweit suffizienz- und effizienzorientierte Maßnahmen einen Beitrag zur Minderung technologischer Risiken leisten können. Als beispielhaft kann hier die RESCUE-Studie des Umweltbundesamts angesehen werden, entsprechende Ansätze bestehen auch bei der Agora-Studie „Klimaneutrales Deutschland“.

Zudem sollten politische Instrumente konsequent und verpflichtend ex-post evaluiert werden. Dies würde es ermöglichen, die Quantifizierung von Wirkungen ähnlicher Instrumente in zukünftigen Maßnahmenszenarien erheblich zu verbessern. Damit könnte auch die Realisierbarkeit von Zielpfaden in Zielszenarien weit zuverlässiger eingeschätzt werden, um so robuste Wege hin zu der dringend benötigten raschen nachhaltigen Transformation entwerfen zu können.

Transparenzhinweis: Das ifeu-Institut, dem der Autor angehört, hat bei der Erstellung der Langfristszenarien und der RESCUE-Studie mitgewirkt, der Autor selbst war an diesen Arbeiten jedoch nicht beteiligt.

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